Meine Stadt rettet; Krankenwagen; Reanimation; App; Elsner; Lübeck; Schleswig-Holstein

Schneller als der Rettungswagen

Leitstellenunterstützung: Wie eine App und viele Freiwillige helfen, Leben zu retten

Bei Herz-Kreislauf-Stillstand sind gerade die ersten Minuten für den weiteren Krankheits- bzw. Genesungsverlauf entscheidend. Neun Minuten – das ist vielleicht schon zu viel. Das Projekt „Meine Stadt rettet“ schafft nun konkret Abhilfe. Das App-basierte System aktiviert viele Ersthelfer, integriert dabei (Geo-)Daten, gewährt Datenschutz und schafft so eine positive Referenz für E-Health-Lösungen.

Es sind nur zehn Prozent, die von den jährlich mindestens 50.000 Menschen überleben, die außerhalb eines Krankenhauses einen Herz-Kreislauf-Stillstand erleiden. Wie können Kommunen an dieser missfälligen Situation etwas ändern, ohne zusätzliche Ressourcen einzusetzen?

Zu wenige Reanimationen

Im Zweifel schneller: Auf einem Drittel der Fläche Schleswig-Holsteins werden nebe der Nothilfe ehrenamtliche Ersthelfer alarmiert - per App, direkt aufs Smartphone.
© Meine Stadt rettet

„In dem mehr qualifizierte Menschen unverzüglich Wiederbelebungsmaßnahmen einleiten“, erklärt Dr. Christian Elsner. Im Jahr 2015 wurde nur bei knapp 30 Prozent aller Herz-Kreislauf-Stillstände eine Reanimation begonnen – durch Laien. „Wenn es uns aber gelingt, mehr Menschen mit mehr Fähigkeiten zur Wiederbelebung schneller an die Einsatzorte zu lotsen, können sich die Überlebenschancen der Patienten verdoppeln oder gar verdreifachen.“ Es geht allein bundesweit um 10.000 Leben, in ganz Europa um etwa 100.000. Die Idee des Arztes: Ehrenamtliche Ersthelfer, die es wegen ihrer örtlichen Nähe regelmäßig schaffen, noch vor dem Rettungswagen an Ort und Stelle einzutreffen und die Erstversorgung übernehmen. Das ist längst kein Wunschdenken mehr.

„Mit der europäischen Gesellschaft für Rhythmologie ist es uns gelungen, eine Software zu entwerfen, die Notruf-Leitstellen und ehrenamtliche Retter über eine App verknüpft“, erklärt der Geschäftsführer des Lübecker Standortes des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein (UKSH). Elsner war zudem bis Anfang des Jahres bei der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie für die Entwicklung von E-Health-Lösungen zuständig. Eine Aufgabe mit mancherlei Hürden.

Dr. Christian Elsner ist Geschäftsführer des Lübecker Standortes des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein (UKSH).
© Christian Elsner

Offene Standards und Schnittstellen

„Der Datenschutz wird heute extrem hoch gehalten“, erklärt Elsner. „Allein dafür haben wir anderthalb Jahre Zeit investiert. Rund 70 Prozent unseres Budgets ist in juristische Analysen geflossen.“ Die Initiative arbeitet nicht kommerziell. Ziel war es von Beginn, ein Software-System mit offenen Standards und Schnittstellen aufzubauen, an das andere Kommunen, Einrichtungen und Initiativen anknüpfen können. Das macht es interessierten Stellen leicht, entweder das bestehende Programm zu übernehmen oder eine eigene Applikation programmieren zu lassen, die den Anforderungen vor Ort gerecht wird.   

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Der Datenschutz wird heute extrem hoch gehalten, allein dafür haben wir anderthalb Jahre Zeit investiert.

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6.000 Ehrenamtliche registriert

Neben der Hansestadt Lübeck arbeiten mittlerweile die holsteinischen Landkreise Dithmarschen, Steinburg und Pinneberg mit dem System. Elsner spricht von insgesamt mehr als 6.000 registrierten ehrenamtlichen Helfern. Mit zwei weiteren Landkreisen stehe man in Verhandlungen. „Mitte des Jahres soll ganz Schleswig-Holstein abgedeckt sein.“ Der Fokus des Engagements liege vor allem zwischen Nord- und Ostsee. Darüber hinaus hätten aber ebenso ein anderes deutsches Bundesland und ein europäischer Nachbar Interesse signalisiert. 

Seit Dezember ist die App zum Beispiel in das Leitstellensystem der Kooperativen Regionalleitstelle West in Elmshorn integriert. Hier laufen alle Notrufe unter 112 und 110 aus den Kreisen Dithmarschen, Pinneberg und Steinburg ein. Trifft dort eine Nachricht mit Verdacht auf einen Herz-Kreislauf-Stillstand ein, prüft das System automatisch, ob sich ein „App-Helfer“ in der Nähe befindet.

Zeit ist Leben

„Für uns war „Meine Stadt rettet“ etwas völlig Neues, was wir natürlich auch kritisch hinterfragt haben“, erklärt Christian Mandel. „Seit wir das System im Einsatz immer wieder erleben, hat es uns überzeugt.“ Mandel ist Sprecher der Rettungsdienst-Kooperation in Schleswig-Holstein (RKiSH) gGmbH. Deren Notfallsanitäter, Rettungsassistenten und -sanitäter wissen aus täglicher Praxis, wie wichtig die umgehende Erstversorgung und Wiederbelebung bei Herzstillständen ist. „Wenn das Gehirn nicht durchblutet wird, entstehen sofort Schäden – das ist unbedingt zu vermeiden.“ Jeder Ersthelfer, der den Einsatzort noch vor ihnen erreiche, sei deshalb ein Gewinn. Und auch nach Ankunft der Rettungskräfte könnten qualifizierte Helfer weiterhin unterstützen und bei Maßnahmen positiv mitwirken, betont Mandel.

"Alarm" - ein Notfall ganz in der Nähe.
© Meine Stadt rettet
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Seit wir das System im Einsatz immer wieder erleben, hat es uns überzeugt. 

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Christian Mandel, Notfallsanitäter

Und wenn Sie selbst früher da sein könnten?

Der Notfallsanitäter kennt die App aber nicht nur aus seinem Beruf, sondern hat sich ebenso wie viele seiner Kollegen entschieden, das System auf seinem privaten Handy zu installieren. „Stellen Sie sich vor, in Ihrer Straße hält ein Rettungswagen mit Blaulicht und Sie hätten bei einem Kreislaufstillstand als Nachbar viel früher vor Ort sein können, um lebensrettende Maßnahmen zu beginnen.“ Bei Alarm klingelt sein Handy 90 Sekunden lang: „In dieser Zeit muss man darauf reagieren, sonst verschwindet das Signal und kann auch nicht erneut angefordert werden.“ Je nach Region haben sich in Schleswig-Holstein bislang unterschiedlich viele Personen für das Ersthelfer-Netzwerk registriert. 

Durch Algorithmen zu den Defibrillator-Standorten

Die RKiSH ist ein Zusammenschluss der Kreise Dithmarschen, Pinneberg, Rendsburg-Eckernförde und Steinburg, die auf nahezu einem Drittel der Landesfläche Rettungseinsätze fährt. Dazu zählen urbane Gegenden bis hin zu ländlichen Kleinstgemeinden mit viel Land drum herum. Während es in dünn besiedelten Regionen naturgemäß weniger Helfer gibt, machen sich im Hamburger Speckgürtel manchmal gleich ein halbes Dutzend Freiwillige auf den Weg. Eine sinnvolle Koordination ist dann umso wichtiger: „Das System lotst die Ersthelfer direkt zum Einsatzort “, so Mandel. Ein weiterer Helfer soll im Einsatzfall möglichst einen AED (automatisierter externer Defibrillator) zum Einsatzort bringen. „Gerade bei lebensbedrohlichen Herz-Rhythmus-Störungen sind die „sprechenden Elektroschocker“ hoch effektiv und einfach zu bedienen.“         

Landrat des Kreises Steinburg und qualifizierter Ersthelfer: Torsten Wendt.
© Britta Glatki

Durch demographischen und digitalen Wandel ist auch die Politik für das Thema zugänglicher geworden. „Landräte und Bürgermeister kommen zwar noch nicht eigenständig auf uns zu“, erklärt Elsner. „Viele wollen sich des Themas aber annehmen, sobald sie darauf aufmerksam geworden sind.“ Zum Beispiel Torsten Wendt.

Ideen-Schmiede: Healthcare-Hackathon in Kiel

Der Landrat des Kreises Steinburg ist ebenso qualifizierter Ersthelfer und durch die Kooperative Regionalleitstelle West auf die App aufmerksam geworden. Einen eigenen „Einsatz“ habe ihm die App zwar noch nicht vermittelt, das kann aber jederzeit kommen. „Ich bilde seit über 20 Jahren Menschen in Erster-Hilfe aus, damit diese anderen das Leben retten können“, so Wendt. „Für mich ist es daher eine Selbstverständlichkeit, im Bedarfsfall selber aktiv zu sein.“ Den sehr positiven Eindruck des Landrats und der Rettungskräfte will die Regionalleitstelle West nun evaluieren. Im Mai sollen erste belastbare Ergebnisse vorliegen.

Schleswig-Holsteins Gesundheitsminister Dr. Heiner Garg (FDP) sieht die Applikation als ein Beispiel für den Mehrwert von E-Health-Lösungen: „Durch eine gute Idee, ein einfaches Smartphone und freiwillige Ersthelfer können mit der App Leben gerettet werden.“ Sein Ressort hat die Schirmherrschaft für den jährlichen „Healthcare-Hackathon“ in Kiel übernommen, in dessen Rahmen die Idee entstand. Den Teilnehmern des Events winken auch im September 2018 wieder Preisgelder von insgesamt 50.000 Euro. Welche konkreten Lösungen entstehen dieses Mal?

Fest steht, dass großes Potenzial in der digitalen Vernetzung der Akteure der Gesundheitsversorgung liegt. Namhafte Verbände der Branche forderten jüngst ein bundesweites „eHealth-Zielbild“ samt abgeleiteter Strategie. Laut Studien ließen sich so rund 39 Mrd. Euro an jährlichen Effizienzpotenzialen erzielen. Dazu müssten die Bereiche Medizintechnik, Biotechnologie, Gesundheits-IT und die pharmazeutische Industrie stärker zusammengebracht werden.   So ähnlich sieht das auch die schwarz-rote Bundesregierung vor. „Die Zusammenarbeit und Vernetzung im Gesundheitswesen müssen ausgebaut und verstärkt werden“, heißt es im Koalitionsvertrag. „Zur Erreichung einer sektorenübergreifenden Versorgung wollen wir nachhaltige Schritte einleiten.“ Mit „Meine Stadt rettet“ haben kommunale und Landesträger in Schleswig-Holsteins Gesundheitswesen hier bereits einen konkreten Schritt unternommen.