Wegweiser Media & Conferences / Simone M. Neumann

Auf Augenhöhe mit Legal-Tech

Auf Augenhöhe mit Legal-Tech - wie Künstliche Intelligenz Richter_innen in der Praxis der Massenverfahren hilft! -Ein Beitrag zum Best-Practice Dialog

Die Sogwirkung der Digitalisierung führt zu einer Transformation des Rechtswesens, dem sich der Justizapparat nicht mehr entziehen kann. Sogenannte Legal-Tech-Anbieter nutzen Automatisierungsvorteile der Digitalisierung für neue Geschäftsmodelle, um u.a. Verbraucherrechte vor Gericht geltend zu machen (z.B. Fluggastrechte, Dieselskandal). Dadurch entstehen Massenverfahren, welche einen immensen Arbeitsdruck in den Gerichten auslösen. Dieser neuen Gegebenheit kann man nur mit einer verstärkten Automatisierung der Schriftgutbearbeitung entgegentreten. Das Amtsgericht Frankfurt hat im Bereich der Fluggastrechte (sog. Projekt FRAUKE) und das Oberlandesgericht Stuttgart im Bereich der Dieselklagen (sog. Projekt OLGA) mit Unterstützung von IBM Lösungen entwickelt, welche mit dem Einsatz von künstlicher Intelligenz Richter_innen bei der Bearbeitung von Massenverfahren effizient unterstützen. Im Best-Practice Dialog sprachen die Richterin des Amtsgerichts Frankfurt Tatyana Peshteryanu und IBM Data Scientist Christian Metz über ihre Erfahrungen aus der Praxis der Massenverfahren. Sie hatten gemeinsam die Leitung für das Projekt FRAUKE inne.

Im Vortrag wurde zunächst auf die Schieflage bei Massenverfahren im Zivilprozess hingewiesen. Richterin Peshteryanu nannte als Ursachen unter anderem die niedrigschwellige Rechtsdurchsetzung, wie sie Legal-Tech Inkassounternehmen anbieten. Standardisierte Textbausteine und ein digitales Fallmanagement ermöglichen eine einfache Skalierung der Fälle, was in bestimmten Rechtsgebieten zu einer bisher nicht gekannten Anzahl von Verfahren führt. Dies betrifft unter anderem die Domäne der Fluggastrechte und die Dieselabgasverfahren. Demgegenüber steht eine Justiz, deren Arbeitsabläufe weitestgehend analog und papierzentriert sind. Auch die eAkten-Systeme ändern nicht die zugrunde liegenden Praktiken in der Fallbearbeitung. Aufgrund demografischer Effekte und des allgemeinen Fachkräftemangels wird es nicht möglich sein, die Bearbeitung der Fallzahlen mittels zusätzlichen Personals zu stemmen. Auch rechtliche Instrumente wie die Verbandsklage oder die Anpassung der Zivilprozessordnung bieten keine Entlastung bei massiertem Auftreten von Einzelklagen. Daher bedarf es dringend der Digitalisierung der Gerichte, um für Entlastung der Richterschaft und Sachbearbeitung zu sorgen. Wie diese gestaltet werden kann und sollte, wurde im Weiteren von Herrn Metz ausgeführt.

Die Digitalisierung sollte mittels moderner Methoden der Softwareentwicklung wie Design-Thinking erfolgen, welche in agiler Arbeitsweise und mit Fokus auf die Endnutzenden schnell Lösungen in den operativen Betrieb bringen können. Eine prototypische Erprobung neuer Technologien sorgt außerdem für starke Risikominderung im Vergleich herkömmlicher, auf Pflichtenheften und Anforderungen basierender Produkte. Mit diesem Ansatz wurden sowohl mit dem Oberlandesgericht Stuttgart als auch mit dem Amtsgericht Frankfurt am Main innerhalb weniger Wochen Prototypen zur effektiven Fallbearbeitung entwickelt, welche ihren Mehrwert unter Beweis stellen konnten. Beide basieren technologisch auf IBM Watson Discovery. Das Produkt beinhaltet vortrainierte KI- Sprachmodelle, welche in kurzer Zeit mittels entsprechenden Trainings-Dokumenten auf die Domänensprache angepasst werden können. Durch eine übersichtliche Benutzeroberfläche erfolgt das Training ohne aufwändige Programmierung, sodass Modelle innerhalb kürzester Zeit für den produktiven Einsatz bereitgestellt werden können. Deshalb war es möglich, die Prototypen innerhalb von nur fünf Wochen zu entwickeln und zu testen. Sämtliche Ergebnisse der KI lassen sich außerdem mittels Watson Discovery direkt in den Dokumenten nachvollziehen und überprüfen.

Der Prototyp des OLG Stuttgart führt auf Basis des trainierten Sprachmodells eine nachvollziehbare Kategorisierung ähnlich gelagerter Verfahren durch, wobei die Kategorisierungsregeln durch die Richterschaft festgelegt und jederzeit an sich ändernde Rechtslagen angepasst werden können. Die Übersicht in Fallgruppen sorgt für eine zeitsparende Bearbeitung der Einzelfälle, erleichtert die Terminierung und ermöglicht eine Bearbeitung der Fälle im Block. Aufwändige Copy-Paste Arbeit wird erspart, indem relevante Parameter aus den Schriftsätzen automatisch in Beschlussvorlagen überführt werden können. Das System befindet sich seit Anfang November 2022 im operativen Einsatz.

Wie Richterin Peshteryanu darlegte, wurde ein anderer Ansatz mit dem Amtsgericht Frankfurt entwickelt: Das System ermöglicht nach getroffener Entscheidung eine einfache und zeitsparende Konfiguration des Urteilsdokumentes auf Basis teilautomatischer Textbausteinvorschläge. Eine Falldatenextraktion durch ein spezifisch trainiertes Sprachmodell aus den Schriftsätzen erspart außerdem aufwändige Copy-Paste Arbeit, die Textbausteine werden automatisch angereichert. Die Entwicklung erfolgte in Ko-Kreation innerhalb eines gemeinsamen Teams, bestehend aus IBM- Entwicklern sowie Richterinnen und Richter des Amtsgerichts. Ein bewährtes Vorgehen, dass die Nutzerakzeptanz und Mehrwertgenerierung durch kontinuierliches Feedback sicherstellt und auch beim OLG Stuttgart zur Anwendung gekommen ist.

Mit Hilfe des Urteilskonfigurators lassen sich für wiederkehrende Aufgaben zeitsparend und effizient Dokumente erstellen, indem Textbausteine für Standardfälle automatisiert werden. Dieses Wissensmanagement lässt sich aus unterschiedlichsten Quellen speisen, z.B. aus individuellen oder gemeinsamen Textbausteinsammlungen, Analysen vorhandener Urteile am Gericht oder Rechtssammlungen. Dies schafft neben der Zeitersparnis Standards für die Rechtsprechung und kann sogar aufgrund der höheren Vorhersehbarkeit von Entscheidungen zur außergerichtlichen Streitbeilegung motivieren.

Die angeregte Diskussion im Anschluss an den Vortrag bestätigte die Relevanz des Themas - ohne eine rasche Digitalisierung werden sich die Probleme der Massenverfahren nicht bewältigen lassen. Die Projekte zeigen, wie automatisierte Informationsgewinnung und deren nutzerfreundliche Aufbereitung die Richterschaft in der täglichen Arbeit entlasten kann. Darüber hinaus können durch die Kombination verschiedener Tools (z.B. OLGA und FRAUKE) kollaborative Plattformen entstehen, welche einen generellen Paradigmenwechsel weg von der Papierzentrik hin zu einer datenbasierten Arbeitsweise in Massenverfahren fördern. Wichtig dabei ist allerdings, dass der Mensch stets das letzte Wort hat und die KI lediglich unterstützt. Dies wird durch die Entwicklungsmethodik sichergestellt. Durch die schnell einsetzbaren Sprachmodelle von Watson Discovery können die Gerichte auch in Zukunft rasch auf neue Massenverfahren reagieren, die Verfahrenslaufzeiten verringern, sowie die Richterschaft und Sachbearbeitung effektiv entlasten.

Bei weiterem Interesse an den Projekten oder Fragen zu den technischen Lösungen steht Christian Metz (christian.metz@ibm.com) als Ansprechpartner zur Verfügung.