Raus aus der Komplexitätsfalle
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Raus aus der Komplexitätsfalle!

Die Dresdner Forderungen machen handfeste Vorschläge für die Öffentliche Verwaltung, aber auch Unternehmen kämpfen mit allzu komplexen Prozessen

Im Beschaffungsamt des Bundesinnenministerium dauern die Vergabeverfahren durchschnittlich 18 Monate. Aber auch die Privatwirtschaft ist nicht vor der Komplexitätsfalle gefeit. Wie kann es in Zukunft gelingen, Prozesse zu vereinfachen, deutlich schlanker und simpler zu machen? Ein Gespräch zwischen Dr. Christian Aegerter (Stadt Leipzig) und Sabine Möwes (Stadt Köln), die beide an den Dresdner Forderungen mitgewirkt haben, sowie Isabella Groegor-Cechowicz (Amazon Web Service) und Felix Zimmermann vom Beschaffungsamt des Bundesinnenministeriums.

Der Normenkontrollrat attestiert in seinem Monitor Digitale Verwaltung #5 unserem Land nicht ein Zuwenig, sondern ein Zuviel an Kompelxität: Deutschland steckt – in der Pandemiebekämpfung genauso wie bei der Verwaltungsdigitalisierung – in einer Komplexitätsfalle", heißt es dort. Wenn wir diese verlassen wollen, was dringend angebracht ist, müssen wir uns mit der Frage auseinandersetzen: Wie kann die Komplexität in Zukunft gehandhabt werden, auf der Verwaltungs-Ebene ebenso wie in der IT der Verwaltung? Und welche Aufgaben ergeben sich daraus? 

Die Dresdner Forderungen

Sabine Möwes, Digitalisierungsbeauftragte der Stadt Köln, und Dr. Christian Aegerter, Hauptamtsleiter der Stadt Leipzig, kommen aus der Praxis. Sie bringen die Digitalisierung in ihren Städten voran und sind in ihrer täglichen Arbeit auch mit den Hindernissen, die sich aus einem Übermaß an Komplexität ergeben, konfrontiert. Zusammen mit Digitalisierungsgestalter*innen der Stadtverwaltungen in Essen, Köln, Freiburg, München, Leipzig sowie vom Deutschen Städtetag haben sie nach Potentialen für Veränderungen gesucht und ihre Erkenntnisse in den Dresdner Forderungen zusammengefasst.

Den Ist-Zustand, wie viele Kräfte auf die Umsetzung des OZG wirken, zeigt das berühmte Wimmelbild, das vom Normenkontrollrat erstellt wurde: Es gibt zu viele Akteure auf der Bundesebene, dazu herrscht das Ressortprinzip, wo einer dem anderen nicht reinreden darf, es gibt neben dem IT-Planungsrat die 16 Bundesländer und 11.000 Kommunen. Dieses - um im Bild zu bleiben - Gewimmel ist schwierig zu steuern ist. Das Fazit der Forderungs-Verfasser*innen heißt daher auch: Die Komplexitätsgrenze ist nicht nur erreicht, sie ist überschritten.

Beim OZG reden viele mit. Über allem steht die Frage: Funktioniert das?
© Normenkontrollrat

Wie sehen die Vorstellungen von einer neuen Verwaltung aus?

"Die Digitalisierung kommt zu langsam voran, OZG wird nicht so schnell umgesetzt wie erhofft, beispielsweise bei der Übernahme einer Lösung eines Bundeslandes durch ein anderes", sagt Dr. Christian Aegerter. Aber damit nicht genug:  "Es drängeln schon die Zukunftsaufgaben: SmartCities, Mobilitätswende, Gesundheit, Klimawandel - das sind die eigentlichen Kernthemen, die wir Städte haben. Und diesen müssen wir uns stellen."

Daher ist eine wichtige Forderung: Verwaltungsleistungen wie etwa Elterngeld, KfZ-Zulassungen und Meldewesen sollen als Pflichtaufgaben vom Bund und Ländern übernommen werden. Die Verfasser*innen der Dresdner Forderungen rechnen damit, dass 90 Prozent der Bürger*innen sowie der Unternehmen die digitalen Anwendungen nutzen werden. Um die zehn Prozent, die weiterhin ihre Belange analog vortragen, kümmern sich nach wie vor die Städte und Gemeinden. Die Kommunen wollen die Leistungen nicht mehr selbst betreiben, nicht mehr selbst ausschreiben, sondern sie wollen sich anbinden. Zu wichtig sind die Kernaufgaben der digitalen Daseinsvorsorge, von Bildung, Umwelt, Soziales, Kultur und Sport - da sehen sich die Kommunen in der Pflicht. 

Konkret heißt es in den Dresdner Forderungen: 

  • Verringerung der Komplexität, neue Zusammenarbeit gestalten
  • Stärkung der digitalen Daseinsvorsorge ermöglichen
  • OneStopShop: Schaffung der Voraussetzung für den Einsatz von KI
  • OZG als Treiber für durchgängige Verwaltungsdigitalisierung nutzen
  • Nuzter*innen in den Mittelpunkt stellen

Betrifft Komplexität auch die Privatwirtschaft?

"Komplexität betrifft alle Organisationen, sie kommt nicht nur in der Öffentlichen Verwaltung vor. Besonders große Unternehmen tendieren dazu, Komplexität zu entwickeln." Isabella Groegor-Cechowicz, Vice President Sales Public Sector der Region EMEA bei Amazon Web Services (AWS), weiß, wovon sie redet. Denn auch bei Amazon machten sich die Schattenseiten der Komplexität bemerkbar. So stellte das Unternehmen um das Jahr 2000 fest, dass die Einführung einer Produktkategorie ungefähr sechs Monate dauert, bevor sie auf die Website gestellt werden konnte. "Es ist unwahrscheinlich schwierig und aufwändig, das über die Zeit durchzuhalten", so Isabella Groegor-Cechowicz.  

Wie ging Amazon damit um? Das Unternehmen entschied, die Architektur soweit zu entflechten, das die Einführung nun vereinfachter ist. Jetzt wird in kleinen, agilen Teams gearbeitet, die für Teilprozesse zuständig sind. Treten Veränderungen ein, hat das nicht mehr sofort eine Auswirkung auf die Teams.

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Letzten Endes ist auch die AWS Cloud so entstanden. Denn es ging darum, Komplexität zu vereinfachen, damit sich Teams tatsächlich auf ihre Kernaufgaben besinnen können.

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Isabella Groegor-Cechowicz

Komplexe Beschaffungsverfahren

Für den Public Sector ist die Beschaffung, etwa von Hard- und Software ein großes Thema. "Wenn man an Beschaffung denkt, denkt man nicht in erster Linie an Komplexität, sondern an einen formalen Prozess", bemerkt Felix Zimmermann, verantwortlich für die zentrale IT-Beschaffung im Bundesinnenministerium (BMI). Betrachtet man den Vergabeprozess als Verfahren, so ist er tatsächlich sehr formalistisch geprägt. Die Komplexität stecke nicht im Verfahren selbst, sondern schon im Vorfeld des eigentlichen Verfahrens, so Felix Zimmermann.

Im BMI beläuft sich der Vorlauf auf 18 Monate, bevor ein Vergabeverfahren startet. Die Komplexität der Vergabeverfahren begründet Felix Zimmermann so: "Wir haben 180 Bedarfsträger in der unmittelbaren Bundesverwaltung, insgesamt sind es rund 560. Unser Auftrag ist es, Rahmenverträge zu machen, aus denen standardisierte Leistungen bezogen werden können. Server, PCs, Notebooks, Unterstützungsleistungen. Die Herausforderung besteht darin, zu wissen, was genau gebraucht wird. Da sucht man sich dann die Partner in der Verwaltung, die Angaben in Form von Anforderungen machen können. Wir stimmen uns beispielsweise mit dem ITZ-Bund ab, die uns im Hinblick auf die IT-Konsolidierung Vorgaben machen können."

Statements: Was es jetzt braucht

"Pragmatisch betrachtet brauchen wir den OneStopShop", sagt Sabine Möwes. Dieser würde Online-Services zentral für Kommunen zur Verfügung stellen. Es gäbe Marktplätze für Online-Services, die konsequent von Ende-zu-Ende gedacht sind. Fachverfahren wären miteinander gekoppelt und die IT-Strukturen der Verwaltung weniger komplex. So haben es die Verfasser*innen in den Dresdner Forderungen formuliert. 

Dr. Christian Aegerter setzt auf mehr interkommunale Zusammenarbeit. Als ein gelungenes Beispiel für diese Zusammenarbeit nennt er das elektronische Archiv, das alle Kommunen des Freistaats Sachsen gemeinsam einführen. Auch in der Kooperation mit den kommunalen IT-Dienstleistern sieht er noch viel Potential, hier wolle man gemeinsam an einem Strang ziehen. Denn auch die IT-Dienstleister sähen ein Missverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage: "Wir haben 300 Verfahren für 20 Kunden. Um wirtschaftlich zu sein, bräuchten wir 300 Kunden für 20 Verfahren", heißt es aus ihren Reihen. 

Und die Beschaffung? "Sie muss nach vorn geholt werden, in die Projekte", sagt Felix Zimmermann. "Dorthin, wo die Projekte geplant werden, und in die Strategien. Aus meiner Sicht wird Beschaffung erst dann zu komplex, wenn sie nicht von Anfang an mitbedacht wird." 

Eine der Dresdner Forderungen: Bund und Länder übernehmen verpflichtend Verwaltungsdienstleistungen. So könnten sich Kommunalverwaltungen auf ihre Kernaufgaben konzentrieren.
© Peter Adelskamp, Dr. Christian Aegerter, Dr. Uda Bastians, Wolfgang Glock, Tanja Krins, Sabine Möwes, Bernd Mutter: "Kommunalverwaltung weiterdenken. Perspektiven über das OZG hinaus" (2021)