Ein Lagerarbeiter steht in einer riesigen Lagerhalle
© Shutterstock /

Öffentliche Beschaffung in Deutschland 2020: Wo Peter Altmaier 20 Jahre nachholen muss

Dieser Tage fand die erste digitale Beschaffungskonferenz statt. Auf dieser trat auch der Wirtschaftsminister Peter Altmaier auf und hielt eine Keynote. Leider war auf dieser Konferenz eine Personengruppe nicht vertreten: Praktiker aus Verwaltungen, welche bereits seit Jahrzehnten eine effektive und zentralisierte elektronische Beschaffung erfolgreich im Einsatz haben.

Zur Illustration, wie es um die öffentliche Beschaffung in Deutschland tatsächlich bestellt ist, wollen wir ein paar Beispiele bringen, die einfach aus aktuellen Vergabeblättern des Septembers 2020 herausgegriffen sind:

  1. Die Stadt Münster, “Zentrales Vergabemanagement“, gibt bekannt, dass für eine öffentliche Ausschreibung über 50.000 Liter Diesel die Wirtz Energie + Mineralöl GmbH in Ratingen den Zuschlag erhielt. Die gleiche Stelle schreibt für die Koordinierungsstelle für Klima und Energie der Stadt Münster „Plakate in verschiedenen Formen“ aus, wobei eine Rahmenvereinbarung für ein Jahr abgeschlossen werden soll.
  2. Die Kultur Ruhr GmbH, Gesellschafter Land Nordrhein-Westfalen und der Regionalverband Ruhr, gibt am 3.9.2020 bekannt, dass sie den „Kauf von 15 Laptops (2 unterschiedliche Ausstattungsarten) und Zubehör (Docking-Station, LED-Monitor, Tastatur/Maus, Laptop-Tasche, Bluetooth-Headset)“ öffentlich ausschreibt.
  3. Die Stadt Schwabach vergibt die ausgeschriebene „Lieferung von Kraftstoff an einer Tankstelle mit der Verwendung von Tankkarten“ für einen „Fuhrpark von mehr als 100 Fahrzeugen und Geräten“ an die Rödl GmbH in Neumarkt, den einzigen Bieter in diesem Verfahren.
  4. Die Stadtverkehr GmbH + Co. KG aus Villingen-Schwenningen schreibt im Mai 2020 im TED mit 2020/S 098-235628 „1 Bus in Low-Entry Ausführung mit Klimaanlage und Euro 6 Motor, förderfähig nach der LGVFG Förderrichtlinie Baden-Württemberg 2020“ europaweit aus – einen einzigen Bus.

Die Ausschreibungsblätter sind voll von derartigen Ausschreibungen, die allesamt belegen, dass es in Deutschland auch 2020 nicht gelungen ist, Bedarfe der öffentlichen Hand zu bündeln und auch bei standardisierten und homogenen Gütern Economies of Scale zu nutzen. Und zwar nicht nur nicht innerhalb einzelner Kommunen, sondern auch über komplette Bundesländer hinweg. So gibt das Regierungspräsidium Stuttgart bekannt, dass die öffentliche Ausschreibung über „die Lieferung von drei Kleintransportern mit Allradantrieb“ mit der Vergabe von zwei Kleintransportern an die Volkswagen Automobile Stuttgart GmbH endete, der dritte wurde nicht beschafft. Und zwar anscheinend, ohne dass eine Bündelung von Bedarfen der gesamten Landesverwaltung erfolgt wäre oder ein Rahmenvertrag des Landes existierte. Dass das Land Baden-Württemberg pro Jahr nicht mehr als drei solcher Fahrzeuge beschafft, erscheint eher unwahrscheinlich.

Eine zentrale Beschaffungsagentur stellt die Rahmenverträge in einem Webshop bereit. Dort können die Dienststellen „Amazon-like“ einkaufen
© Shutterstock / William Potter

Folgen der „Ausschreibung in kleinsten Portionen“

Diese Form der Vergabe kleiner Lose in administrativ aufwändigen Verfahren führt zu folgenden Effekten:

  1. Preis

    • Wegen zu weniger Angebote werden keine Marktpreise erzielt, sondern der Preis des oft einzigen Bieters muss angenommen werden. Dies ist einerseits durch die geringe Losgröße und das geringe Auftragsvolumen determiniert, welches z. B. ausländische oder wenigstens überregionale Bieter von einer Angebotslegung abhält.
    • Die verglichen mit „normalem Vertrieb“ hohen Kosten der Teilnahme an öffentlichen Vergabeverfahren werden auf den Preis aufgeschlagen. Bei der Stadtverkehrsgesellschaft mbH Frankfurt (Oder) ist bei einer 2018 erfolgten Ausschreibung für 2 Niederflur-Gelenkbusse und 1 Niederfluromnibus ein Lastenheft von 71 Seiten, drei Seiten Allgemeine Vertragsbedingungen sowie eine Eigenerklärung zum Mindestlohn zu beachten, die drei Seiten umfasst. Bei einem Busbestand in Deutschland von um die 80.000 Einheiten, in etwa hälftig ÖPNV-Busse und Reisebusse, ist es wenig verwunderlich, warum hier keine Mengenrabatte erzielt werden können. Ausschreibungen mit circa hundert Bussen sind äußerst selten, faktisch höchstens bei BVG und im Konzern der DB AG zu finden.
    • Preisabsprachen und Korruption: Gerade die Abwesenheit von echtem Wettbewerb gepaart mit intransparenten und aufwendigen papierbasierten Ausschreibungen fördert Korruption, diese kommt auch in Deutschland vor, bspw. der MAN-Skandal, der Thüringer Busprozess oder das Buskartell von Schwaben (hier liegt kein rechtskräftiges Urteil vor, es gilt also die Unschuldsvermutung).
  2. Prozesskosten
    Jede öffentliche Ausschreibung stellt ein Rechtsrisiko für die ausschreibende Stelle dar. Sollte es zu einem Einspruchsverfahren kommen, bedeutet dies Zeitverzögerung und Kosten in Höhe von mindestens mehreren Zehntausend Euro – im schlimmsten Fall die Wiederholung des Verfahrens. Ruft die beschaffende Stelle hingegen aus einem Rahmenvertrag ab, bedient sie sich eines zugeschlagenen, aufrechten Vertrages mit Null Rechtsrisiko.

  3. Kosten der Informationsasymmetrie
    Beschaffende Stellen sind selten Spezialisten im jeweiligen Markt und eine laufende Marktverfolgung kommt aus Kapazitätsgründen nicht in Frage. Hinzu kommt die Möglichkeit der Preisdiskriminierung seitens der Anbieter. In beiden Fällen liegt der Vorteil der Informationsasymmetrie voll und ganz bei den Anbietern.

Die Vorteile einer Beschaffungsagentur

Eine zentral agierende Beschaffungsagentur, die den Markt beobachtet, Bedarfe erhebt, professionell Rahmenverträge ausschreibt und zuschlägt, überwindet die oben dargestellten Probleme. Alleine an Preisersparnis sind über 20 % vom Listenpreis ein vollkommen realistisches Ziel. Der Abruf erfolgt aus rechtsgültig zugeschlagenen Rahmenverträgen, daher ohne Rechtsrisiko. Schließlich hat eine solche zentrale Beschaffungsagentur auch die personellen Ressourcen den Markt professionell zu beobachten und die Vergabeverfahren durch spezielle ausgebildete Juristen durchführen zu lassen. Die Rahmenverträge werden den Dienststellen in einem Webshop zur Verfügung gestellt; dort kann man „Amazon-like“ einkaufen, einfach klicken und bestellen. Als Beispiel sei auf den e-shop der Österreichischen Bundesbeschaffung verwiesen: Drei Millionen Produkte aus ca. 2.000 geprüften und korrekt vergebenen Rahmenverträgen sind hier verfügbar.

Diese Systeme existieren seit Jahrzehnten

Diese Vorteile sind nicht neu und in der Wissenschaft lange abgehandelt. Die erste Veröffentlichung der Autoren zum Thema Public e-Procurement war „The Economic Effects of the Transition of the US Federal Procurement to Electronic Commerce“, CEMS Business Review 2, 1998 – also über 20 Jahre alt und behandelt die Umstellung der US – Bundesbeschaffung auf ein zentrales elektronisches Beschaffungssystem, das sog. FACNET, welches auf Basis des Federal Acquisition Streamlining Act of 1994 unter Präsident Clinton geschaffen wurde. Mittlerweile haben viele andere Länder nachgezogen und verfügen über derartige Systeme, u.a. Österreich, Zypern, aber auch Slowenien. Während die meisten EU-Mitgliedsstaaten auf solche echten Portale verweisen können, gibt es dort unter „Germany“ nur den Link auf eine Textseite des Bundeswirtschaftsministeriums, die dort weiter verlinkte e-Vergabe-Plattform verfügt weder über einen Webshop noch ist die Nutzung verpflichtend. Die dort zuletzt genannten Ausschreibungen beinhalten bspw. die Beschaffung von „1 x Edelstahl Arbeitsschrank, 2 x Edelstahl Arbeitstisch, 2 x Edelstahl Wandhängeschrank, 1 x Edelstahl Kühlschrank und 1 x Standherd“ der Stadt Weißenfels in Sachsen-Anhalt. Dass hier keine deutschlandweiten oder auch nur bundeslandweiten Rahmenverträge existieren, erscheint offensichtlich.

Eine zentrale Beschaffung fehlt

Woran liegt es? Oftmals wird die hochgradig föderative Struktur Deutschlands genannt, wo es starken politischen Willens bedürfe, eine verpflichtende gemeinsame Beschaffung über eine gemeinsame Plattform durchzusetzen. Wir finden diese landläufige Erklärung aber nicht überzeugend, da eine erfolgreiche Beschaffungsplattform auch diejenigen Länder, Kommunen und öffentliche Unternehmen anzieht, die zu deren Verwendung nicht verpflichtet sind. In Österreich beispielsweise, wo lediglich die (nicht autonomen) Bundesdienststellen verpflichtet sind, über die Bundesbeschaffung einzukaufen, erfolgen mittlerweile 59 % der Abrufvolumina aus dem Bundesbeschaffungssystem von Ländern und Gemeinden sowie anderen öffentlichen Auftraggebern wie autonomen Hochschulen oder Kliniken. Das Problem scheint hier eher zu sein, zunächst ein erfolgreiches Modell zu etablieren, an das sich dann öffentliche Beschaffer anschließen können - nicht weil es verpflichtend ist, sondern um schneller, billiger und rechtssicherer zu beschaffen.

Jedes Wirtschaftsunternehmen weiß: Im Einkauf liegt der halbe Gewinn
© Shutterstock / Panchenko Vladimir

Eher dürfte es auch daran liegen, dass die öffentliche Verwaltung in Deutschland faktisch über keine ERP-System-gestützte Materialwirtschaft und Logistik verfügt. Dass auf der Webseite der SAP AG das Whitepaper „The intelligent enterprise for the public sector“ nicht einmal mehr in deutscher Sprache angeboten wird, mag als Indiz dafür gelten. Hinzu kommt die Gewissheit der Autoren, dass es auf dem Gebiet Materialwirtschaft und Logistik auf den deutschen Verwaltungshochschulen kein Lehrangebot gibt. Dies führte u.a. dazu, dass die Hochschule Ludwigsburg gemeinsam mit Partnern aus Ungarn und Moldau  ein eigenes Lehrprogramm hierfür entwickelte, das nun mit der Hochschule des Bundes erweitert wird.

Warum ist Materialwirtschaft hier wichtig? Um Bedarfe zu bündeln, muss

  1. Man den eigenen Lagerbestand innerhalb der Organisation genau kennen, hierfür braucht es eine klassische Materialwirtschaft – über die ganze Kommune bzw. das ganze Bundesland. Solange jede städtische Stelle für sich, ggf. noch über eine zentrale Beschaffungsstelle ohne Bedarfsbündelung ausschreibt, gibt es die nicht. Dass die Stadt Münster nur 50.000 Liter Diesel pro Jahr benötigt, ist unwahrscheinlich – allein die stadteigenen Stadtwerke betreiben 120 Busse im Linienverkehr.
  2. Für die Planung der Rahmenvertragsausschreibung müssen Bedarfe anhand von Verbräuchen der Vergangenheit prognostiziert werden. Erst eine Materialwirtschaft in digitaler Form ermöglicht diese Verbrauchsprognose.
  3. Wenn man beispielsweise kommunenübergreifend gemeinsam beschaffen möchte, müssen die Katalogitems im zentralen Beschaffungssystem den jeweiligen Materialien in den Systemen der einzelnen Kommunen zugewiesen werden. Dies setzt aber eine stabile Materialverwaltung in den betroffenen Systemen aller Beteiligten voraus.

Diese allerwesentlichsten Voraussetzungen scheinen in der öffentlichen Verwaltung nicht gegeben zu sein. Und so ist auch die berechtigte Aufforderung von Minister Altmaier, „Öffentliches Geld sollte in Zukunft stärker unter Nachhaltigkeitsaspekten vergeben werden“ auf besagter digitaler Beschaffungskonferenz eher als Wunschvorstellung zu verstehen. Solange es kein elektronisches Beschaffungssystem gibt, bei dem man Attribute wie „Nachhaltigkeit“ operationalisieren und bei den Materialstammdaten bzw. Lieferantenstämmen speichern kann, ist es fraglich, wie etwa die Stadt Weißenfels bei der obigen Ausschreibung erfahren soll, ob der einzeln beschaffte Edelstahlkühlschrank “nachhaltig” ist.

Möglicherweise führt der sich gerade in unserer COVID-19-Zeit aufstauende Druck auf die öffentlichen Haushalte, Stichwort Neuverschuldung Bund 2020 bei 217,8 Mrd. Euro, dazu, dass diese Potenziale gehoben werden. Denn wie jedes Wirtschaftsunternehmen weiß: Im Einkauf liegt der halbe Gewinn. Und die öffentlichen Verwaltungen haben am Ende des Tages nur drei Möglichkeiten: Personal einsparen, Leistungen reduzieren oder günstiger und effizienter einkaufen.

Nehmen Sie Kontakt zum Autor/zur Autorin auf

Sie haben Interesse an einem Erfahrungsaustausch oder weiteren Informationen? Ihr Feedback und Ihre Fragen leiten wir direkt an den Verfasser / die Verfasserin des Textes weiter.