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Vergaberecht in Corona-Zeiten: Interimsvergabe und Rahmenvereinbarung nutzen

Fachanwälte Andreas Haak und Frauke Koch zu Vergabe und Beschaffung in der Pandemie (Teil 2)

Das Vergaberecht ermöglicht flexible Beschaffungen in Krisenzeiten: Die Spielräume bestehender Rahmenvereinbarungen können ausgeschöpft, Interimsvergaben und eine Verlängerung der Ausführungsfristen vereinbart werden.

Grundsätzlich sollten öffentliche Auftraggeber das Vergabeverfahren nach § 14 Abs. 4 Nr. 3VgV als Interimsvergabe ausgestalten. Selbiges gilt für dringliche Auftragsvergaben im Zusammenhang mit COVID-19. Da Aufträge in Anwendung des § 14 Abs. 4 Nr. 3 GWB ausnahmsweise am „Wettbewerb vorbei“ vergeben werden dürfen, sollen die Wettbewerbsbeschränkungen durch eine kurzzeitige Vertragsdauer zumindest so gering wie möglich ausfallen.

Ausgestaltung als Interimsvergabe

Die Vertragsdauer muss dabei unbedingt auf den Zeitraum beschränkt sein, der für die Erhaltung der Kontinuität der Leistungserbringung während der Vorbereitung und Durchführung eines sich anschließenden ordnungsgemäßen Vergabeverfahrens erforderlich ist. In der Regel dürfte eine Vertragsdauer von einem Jahr angemessen sein. Im kritischen Bereich der Daseinsvorsorge hält die Rechtsprechung Interimsvergaben zur Überbrückung sonst drohender vertragsloser Zustände übrigens sogar dann für zulässig, wenn die Dringlichkeit durch Umstände veranlasst ist, die der öffentliche Auftraggeber zu verantworten hat. Mit der Interimsvergabe darf lediglich der Zeitraum bis zum Abschluss des ordnungsgemäßen Vergabeverfahrens überbrückt werden.

Rahmenvereinbarungen in den Grenzen des § 132 GWB nutzen

Attraktiven Spielraum zur flexiblem Beschaffung in Krisenzeiten bietet das Vergaberecht zudem mit dem Instrument der Rahmenvereinbarungen, auf dessen bevorzugten Rückgriff das Bundeswirtschaftsministerium mit seinem Rundschreiben seinerzeit (aus dem Jahr 2015) ebenfalls hingewiesen hat. Insoweit sollten Auftraggeber im Vorfeld einer beabsichtigten Direktvergabe zunächst die Spielräume eventuell bestehender Rahmenvereinbarungen ausschöpfen.

Vor dem Hintergrund der EuGH-Rechtsprechung (Urteil vom 19. Dezember 2018 – C-216/17) müssen öffentliche Auftraggeber das mit der Rahmenvereinbarung in Aussicht genommene Auftragsvolumen nach § 21 Abs. 1 S. 2 VgV zwar nicht abschließend festlegen, doch sind sie zumindest zur Angabe der ungefähren Größenordnung – unter Bezugnahme auf Referenz- oder Erfahrungswerte – verpflichtet. In diesem Fall besteht für den Auftraggeber die Möglichkeit zum über die Größenordnung hinausgehenden Einzelabruf.

Prüfen, ob eine Neuvergabe geboten ist

Allerdings ist mit jedem Einzelabruf sorgfältig zu prüfen, ob die Überschreitung des Schätzwerts die Grenze des Zulässigen überschreitet und eine Neuvergabe geboten ist. Diese Beurteilung ist anhand von § 132 GWB vorzunehmen. Doch selbst wenn der Einzelabruf eine wesentliche Vertragsänderung bewirkt, kann die Neuausschreibung nach der Wertung des § 132 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 GWB ausnahmsweise entbehrlich sein.

Dies ist dann der Fall, wenn die Änderung aufgrund von Umständen erforderlich wird, die der öffentliche Auftraggeber im Rahmen seiner Sorgfaltspflicht nicht vorhersehen konnte, der Gesamtcharakter des Auftrags unverändert bleibt und sich der Preis nicht um mehr als 50% des ursprünglichen Auftragswertes erhöht (vgl. § 132 Abs. 2 S. 2 GWB).

Rundschreiben des Bundeswirtschaftsministeriums

Wie das Rundschreiben des Bundeswirtschaftsministeriums klarstellt, war die dynamische Entwicklung der Corona-Pandemie mit den daraus resultierenden kurzfristigen Bedarfen selbst bei Einhaltung der Sorgfaltspflichten nicht vorhersehbar. Weiter begründet die Erweiterung einer Rahmenvereinbarung um zusätzliche Leistungen keine Neuausschreibungspflicht, solange die Vorgaben für die Preisänderungen beachtet sind. Insbesondere solange der Auftraggeber im Zuge der COVID-19-Krise das rahmenvertraglich angegebene Auftragsvolumen ausschöpft, ohne die relevante 50%-Grenze zu überschreiten, dürfte der Mehrabruf von § 132 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 GWB gedeckt sein.

Das Bundeswirtschaftsministerium stellt in einem Rundschreiben vom 19. März 2020 – neben dem Hinweis auf die Möglichkeit von Dringlichkeitsvergaben – klar, dass Verlängerungen und Erweiterungen bestehender Verträge nach § 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 GWB im Einzelfall möglich sind.

Was tun bei Leistungsausfällen oder Leistungsverzögerungen?

Die Corona-Pandemie führt auf Seiten der Auftragnehmer zu erheblichen Leistungsverzögerungen oder Leistungsausfällen. Diese haben ihre Ursache in Lieferkettenunterbrechungen (u.a. durch die Schließung oder stärkere Kontrolle an den Grenzen, Exportstopps), übermäßiger Nachfrage nach bestimmten Produkten auf dem Markt, Schließungen diverser Einrichtungen oder Mitarbeiterausfällen, beispielsweise infolge von Infizierungen oder Quarantänemaßnahmen. Auftraggeber haben gegenüber ihren Vertragspartnern zwar einen Anspruch auf fristgerechte und vollumfängliche Leistungserfüllung.

Verlängerung von Ausführungsfristen

Doch können sich Auftragnehmer aufgrund der Corona-Krise wohl meist erfolgreich auf § 5 Nr. 2 Abs. 1 VOL/B und § 6 Abs. 2 Nr. 1 lit. c) VOB/B berufen und eine Verlängerung der Ausführungsfristen bewirken. Nach § 29 Abs. 2 S. 1 VgV sowie § 8a Abs. 1 S. 1 VOB/A-EU sind die Allgemeinen Vertragsbedingungen für die Ausführungen von Leistungen (VOL/B) bzw. Bauleistungen (VOB/B) regelmäßig in die Verträge einzubeziehen. Eine Ausnahme von dieser Regel gilt nur in Bezug auf freiberufliche Tätigkeiten. § 5 Nr. 2 Abs. 1 S. 1 VOL/B sieht unter der Überschrift „Behinderung und Unterbrechung der Leistung“ die Möglichkeit vor, die Ausführungsfristen wegen höherer Gewalt angemessen zu verlängern. Gleiches gilt nach der Wertung des § 5 Nr. 2 Abs. 1 S. 2 VOL/B für vergleichbare Behinderungen von Unterauftragnehmern und Zulieferern, soweit und solange der Auftragnehmer tatsächlich oder rechtlich an Ersatzbeschaffungen gehindert ist. Eine ähnliche Regelung enthält § 6 Abs. 2 Nr. 1 lit. c) VOB/B für den Bereich der Bauleistungen. Weiter gilt bei längerer Leistungsunterbrechung nach § 6 Abs. 5 VOB/B, dass die ausgeführten Leistungen nach den Vertragspreisen abzurechnen und dem Auftragnehmer die bislang angefallenen Kosten zu vergüten sind. Dauert die Unmöglichkeit mehr als drei Monate an, kann jeder Vertragspartner den Vertrag gemäß § 6 Abs. 7 VOB/B, § 5 Nr. 2 Abs. 2 VOL/B schriftlich kündigen.

Keine Schadensersatzansprüche gegenüber Lieferanten möglich

Ist aber der Corona-Virus zutreffend als Fall höherer Gewalt zu würdigen, bedeutet dies gleichermaßen, dass öffentliche Auftraggeber grundsätzlich keine Schadensersatzansprüche oder Ansprüche auf Zahlung einer Vertragsstrafe gegenüber ihren Auftragnehmern/Lieferanten geltend machen können. Ausgeschlossen ist ferner die Möglichkeit zur außerordentlichen Kündigung wegen anzunehmender höherer Gewalt. Selbiges gilt für einen Ausschluss von laufenden Vergabeverfahren nach Maßgabe von § 124 Abs. 1 Nr. 7 GWB.

Zusammenfassend ist im Zuge der Corona-Krise ein gestuftes Vorgehen geboten:

  • Soweit der dringliche Beschaffungsbedarf nicht durch Ausschöpfung des in einer Rahmenvereinbarung vereinbarten Volumens gedeckt werden kann und eine Fristverkürzung in den Regelverfahren (einschließlich des Verhandlungsverfahrens mit Teilnahmewettbewerb) ebenfalls ausscheidet, dürfen öffentliche Aufträge ausnahmsweise direkt vergeben werden.
  • Rechtsgrundlage für die Direktvergabe ist der Dringlichkeitstatbestand des § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV. Gleichwohl enthebt die im Zuge der Corona-Krise zu unterstellende außergewöhnliche Dringlichkeit den Auftraggeber im Einzelfall nicht von der Prüfung – und sorgfältigen Dokumentation – jeder einzelnen Tatbestandsvoraussetzung.
  • Ferner ist daran zu erinnern, dass Aufträge auf Grundlage des Dringlichkeitstatbestands nicht dauerhaft dem Wettbewerb entzogen werden dürfen. Die Vertragslaufzeit sollte daher nur für einen Übergangszeitraum (voraussichtliche Dauer der Krise) festgesetzt werden. Auftragnehmer können auf eine „angemessene“ Verlängerung der vertraglich festgelegten Ausführungsfristen wegen höherer Gewalt hinwirken.
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