Entscheidungen der Justiz

Digitaler Wandel im Gerichtssaal

Schindler im Interview: Wie KI die Digitalisierung in der Justiz vorantreibt

Für die kommenden Jahre plant der Haushaltsausschuss des Bundes fest mit rund 115 Millionen, die in die Digitalisierung der Justiz fließen sollen. Das soll neue Möglichkeiten schaffen: Effizienteres arbeiten, transparentere Zugänge und vor allem weniger Kosten- und Zeitaufwand. Allerdings stehen dem auch viele Herausforderungen gegenüber. Wie kann der Einsatz von KI im Allgemeinen und generativer KI im Speziellen im Justizwesen gelingen? Eckard Schindler, Direktor des IT- und Beratungsunternehmens IBM, gibt Auskunft über aktuelle Projekte und beantwortet drängende Fragen.

Verwaltung der Zukunft: Der erste Digital Justice-Summit liegt nun ein Jahr zurück. Was hat sich in der Digitalisierung der Justiz seither getan?

Schindler: Zuerst muss ich die Justiz gleich erst einmal loben: Im Vergleich zu den letzten Jahren hat sich etwas getan. Noch nicht in dem erforderlichen Tempo, aber der Fortschritt pocht an der Tür. Ein Beispiel ist die Digitalisierungsinitiative der Justiz, wofür der Bund für dieses Jahr 50 Millionen Euro für innovative Projekte bereitgestellt hat. In diesem Zusammenhang spielt Künstliche Intelligenz (KI) eine wichtige Rolle. Es gibt kaum ein Bundesland, in dem sich die Justiz damit nicht seriös beschäftigt. Ich freue mich, dass wir von IBM mit unseren Projekten OLGA und FRAUKE da an vorderster Front mitwirken.

VdZ: Sie sprechen die KI-Projekte OLGA, FRAUKE und JANO an, die IBM mit der Justiz gemeinsam entwickelt hat. Wie sind die Auswirkungen von KI auf die Justiz im Allgemeinen einzuschätzen? Welche Bereiche betrifft sie besonders?

Schindler: Die Einführung von OLGA am Oberlandesgericht Stuttgart führt tatsächlich zu einer hohen Resonanz auf allen Seiten. Das System ist bereits seit Ende vergangenen Jahres am Oberlandesgericht in Stuttgart im aktiven Einsatz. Dabei handelt es sich um ein auf KI basiertes Assistenzsystem zur Bearbeitung der sogenannten Diesel-Verfahren. Das OLG hat mehr als 10.000 derartiger Fälle zu Bearbeitung. Mit OLGA kann die Bearbeitung für die Richter*innen spürbar beschleunigt werden. Ich hoffe jetzt, dass OLGA alsbald in anderen Teilen Deutschlands zum Einsatz kommen kann. Die Bereitschaft des Justizministeriums in Baden-Württemberg, den Assistenten zu teilen und nachnutzbar zu machen, ist auf jeden Fall da. In naher Zukunft soll es eine KI-Plattform geben, auf der KI-Services angeboten werden.

»

Insgesamt ist die deutsche Justiz im Vergleich zu anderen Verwaltungsressorts in Deutschland mit ihrem klaren Kommittent zum Einsatz von KI führend.

«
Eckard Schindler, Direktor für den Öffentlichen Sektor bei IBM

Das Land Baden-Württemberg tritt hier mit diesem Vorhaben definitiv in eine Vorreiterrolle in der Justiz. Aber auch insgesamt ist die deutsche Justiz im Vergleich zu anderen Verwaltungsressorts in Deutschland mit ihrem klaren Kommittent zum Einsatz von KI führend. Da kann man schon mal ein großes Lob an die Justiz aussprechen. In unser Studie „Unter Digitalisierungsdruck“, die wir jetzt in der zweiten Auflage veröffentlich haben, geht klar hervor: Die Richter*innenschaft weiß um den enormen Einfluss, den KI auf ihren Arbeitsalltag haben wird.

VdZ: Was glauben Sie, warum ist KI so relevant für die Justiz?

Schindler: Derzeit richtet sich das Augenmerk vor allem auf die Verarbeitung von Texten. KI hat die Fähigkeit natürliche Sprache zu verstehen. Sprache, Dokumente, Texte sind der Rohstoff anwaltlicher und richterlicher Arbeit. Die Justiz ist, wenn Sie so wollen, eine der größten textverarbeitenden „Industrien“. Dies erlaubt mit Hilfe von KI die Kernarbeit der Justiz, sozusagen die Produktionsprozesse der Analyse, Erstellung und Archivierung von Texten vollends neu zu denken.

Dabei steht beim Einsatz von KI im Gericht nicht die Automatisierung vollständiger Prozesse im Vordergrund, sondern sie wird als Assistenzsystem der Richter*innen hinzugezogen. KI kann und soll Richter*innen niemals ersetzen, sondern sie in ihren Arbeitsprozessen unterstützen und ihnen lästigen Papierkram abnehmen, sodass sie ihre Energie auf das Fällen von Urteilen fokussieren können. Die Fähigkeit der Richter*innen, weise Urteile zu fällen, bleibt von der KI gänzlich unberührt, nur die Prozesse darum herum ändern sich.

VdZ: ChatGPT hat in diesem Jahr für besonders viel Aufmerksamkeit gesorgt. Inwiefern bringt dies zusätzliche Impulse für die Einsatzmöglichkeiten von KI?

Schindler: Das Erstellen von Texten ist ein Teil der richterlichen Arbeit. Dabei ist die Qualität der Texte, nehmen wir Urteile, natürlich sehr unterschiedlich. Es gibt Texte, die sind im Grunde sehr ähnlich wie in Massenverfahren, andere sind hoch individuell und komplex z.B. in Sozialverfahren. Ich will es an der Lösung FRAUKE erläutern, die wir zusammen mit dem Amtsgericht Frankfurt für die Bearbeitung von Fluggastverfahren entwickelt haben. FRAUKE unterstützt Richter*innen bei der Erstellung des Urteilsdokumentes, nachdem über den Fall entschieden wurde.

»

Generative KI wird dann erfolgreich sein, wenn sie auch in den Rechenzentren der Justiz verfügbar sein wird.

 

«

Dazu nimmt FRAUKE die wesentlichen Daten aus der Gerichtsakte wie z.B.: Flugnummer, Verspätung etc. Wird eine Klage beispielsweise aufgrund von  Wetterereignissen abgelehnt, nutzt FRAUKE passende Textbausteine und kombiniert beides zu einem Urteilsentwurf, den die Richter*in nach Belieben noch anpassen kann. Während wir hier derzeit mit Textbausteinen arbeiten, die von den Richter*innen dem System zur Verfügung gestellt werden, kann ich mir gut vorstellen, dass in naher Zukunft in solchen Massenverfahren generative KI zum Einsatz kommt. Dann würde der Richter den Tenor vorgeben und die generative KI würde danach ein Urteilsentwurf erstellen. ChatGPT sehe ich allerdings nicht als geeignetes Tool für die Justiz, da stellen sich andere Anforderungen.

VdZ: Welche Anforderungen muss sich Generative KI in der Justiz stellen, um zum Einsatz zu kommen?

Schindler: Zunächst einmal sind kuratierte Sprachmodelle zu bevorzugen, in denen Halluzinationen und Bias auf ein Minimum reduziert sind und die Herkunft der Trainingsdaten transparent ist. Auch die zusätzliche Spezialisierung auf rechtsrelevante Sachverhalte wird von Vorteil sein. Entscheidend ist für mich noch mehr, dass die Justiz die Möglichkeit hat auf Basis ihrer eigenen Daten die Sprachmodelle weiterzuentwickeln. Dazu ist ein sicherer Umgang mit den Daten unumgänglich. Die Hoheit über die Daten muss bei der Justiz bleiben. Daher wird generative KI dann erfolgreich sein, wenn sie in den Rechenzentren der Justiz verfügbar sein wird. Watsonx ist eine KI-Plattform der IBM, die solche Anforderungen bedient. Wenn also – um auf das Beispiel zurückzukommen – generative KI auf den Fluggastrechtsurteilen eines Landes trainiert wurde, dann wird es zweifelsohne in der Lage sein, auf Anweisung der Richter*in einen brauchbaren Urteilsentwurf zu schreiben. Wir werden es bald erleben.

Die Digitalisierungsinitiative (ehem. Digitalpakt) des BMJ

Der Bundeshaushaltsausschuss hat für 2022 angekündigt, dass in den kommenden Jahren 200 Millionen Euro für die Digitalisierung der Justiz zur Verfügung gestellt werden sollen. Rund 115 davon sind bereits fest eingeplant. Der Großteil wird in das „Gemeinsame Fachverfahren für die Justiz” – kurz „GeFa” – fließen. Damit soll den Insellösungen der sechzehn Bundesländer ein Ende gesetzt werden. Außerdem wird damit der Weg für eine Justiz-Cloud und die E-Akte geebnet.

Die Künstliche Intelligenz fand insbesondere auf dem zweiten Bund-Länder-Digitalgipfel im Mai 2023 Berücksichtigung. Dort haben Bund und Länder sich darauf verständigt: 1) eine KI-Strategie für die Justiz und die notwendige technische Infrastruktur für den Einsatz von KI-Anwendungen in der Justiz und 2) ein eigenes KI-Sprachmodell und weitere KI-Anwendungen für die Justiz zu entwickeln. Auf der Herbst-Justizministerkonferenz fand dies erneute Bestätigung.