Volle Postkörbe sind hier Alltag
Manche Menschen stellen ihren Antrag Monate im Voraus, andere nur wenige Wochen vor Rentenbeginn. Alle müssen pünktlich bearbeitet werden. In der Praxis kommen vollständige und unvollständige Anträge bunt gemischt an. Fehlende Unterlagen müssen nachgefordert, andere geprüft, wieder andere sofort bearbeitet werden. Bisher landeten alle Fälle in Eingangsreihenfolge auf dem Tisch der Sachbearbeitung– egal, wie dringend der Fall bearbeitet werden musste, egal wie komplex oder einfach der Fall war. Dabei den Überblick zu behalten, kostet Zeit und Kraft, und manchmal bleibt das Gefühl: Es müsste doch einfacher gehen.
„Können wir das überhaupt?“ – Der Mut zum Ausprobieren
Als die Idee aufkam, Künstliche Intelligenz (KI) zur Unterstützung einzusetzen, war die Skepsis groß. Verwaltung und KI – passt das zusammen? Können wir das überhaupt? Und: Ist das sicher genug?
Die Deutsche Rentenversicherung Berlin-Brandenburg wollte es wissen. Gemeinsam mit der KI-Beratung und Lösungsanbieterin anacision wurde ein Projekt gestartet, das den Bearbeitungsprozess der Rentenanträge entlasten sollte – ohne das Bewährte über Bord zu werfen. „Wir wollten kein Hochglanzprojekt, sondern echte Entlastung“, sagt eine Projektleiterin aus der DRV BB.
KI als neue Kollegin – pragmatisch, nicht futuristisch
Die entwickelte Lösung analysiert eingehende Anträge automatisch. Sie erkennt, welche vollständig sind, und zeigt an, wo noch Unterlagen fehlen. Darüber hinaus schätzt sie ab, wie aufwändig ein Fall voraussichtlich ist – und vergibt eine Priorität. So wissen die Sachbearbeitenden, welche Anträge zuerst bearbeitet werden sollten, um Fristen optimal einzuhalten.
Das System trifft keine Entscheidungen über die Renten selbst. Es hilft, den Überblick zu behalten und die Reihenfolge der Bearbeitung sinnvoll zu gestalten. Damit bleibt die Verantwortung klar beim Menschen – aber die Arbeit wird strukturierter und effizienter.
Ein Gewinn für alle Beteiligten
Das Ergebnis ist vielversprechend: Vollständige Anträge können früher erledigt werden, Rückfragen können gezielter gestellt werden, und Mitarbeitende verbringen weniger Zeit mit dem Sortieren und Einschätzen. Die Bearbeitungsreihenfolge kann sich nun stärker an tatsächlicher Dringlichkeit orientieren.
Bislang wurde die Lösung als Prototyp umgesetzt – mit durchweg positivem Feedback aus der Praxis. Sowohl die Sachbearbeitenden als auch das Management bewerteten das System als spürbare Entlastung. Auf dieser Grundlage soll der Prototyp nun in die produktive Nutzung überführt werden.
Die Deutsche Rentenversicherung Berlin-Brandenburg rechnet damit, pro Antrag im Schnitt 10 bis 15 Minuten Bearbeitungszeit einsparen zu können. Bei rund 36.000 Fällen im Jahr 2024 entspricht das einer Ersparnis von mehreren tausend Stunden – das Arbeitspensum von mehreren Vollzeitkräften. Und der Bedarf wächst: Bis 2030 werden rund 50.000 Anträge pro Jahr erwartet. Die KI verspricht also einen wichtigen Beitrag zu leisten, um auch künftig steigende Fallzahlen bewältigen zu können.
Technologie, die sich anpasst – nicht umgekehrt
Ein Schlüssel zum Erfolg war die Herangehensweise: Statt ein fertiges Produkt „überzustülpen“, wurde gemeinsam geschaut, was wirklich gebraucht wird. Die KI-Lösung wurde so gestaltet, dass sie sich in die bestehenden Abläufe einfügt. Sie arbeitet neben den vorhandenen Systemen, nutzt die dort verfügbaren Informationen und ergänzt sie sinnvoll – ohne große IT-Umbrüche.
Das war entscheidend, denn so konnte das Projekt schnell gestartet und getestet werden. Wichtig war nicht, alles perfekt zu digitalisieren, sondern konkrete Entlastung im Alltag zu schaffen.
Veränderung beginnt mit Vertrauen
Die größte Hürde war weniger die Technik als die Haltung: „Können wir das? Wollen wir das?“ Viele Mitarbeitende mussten sich erst vorstellen können, dass KI keine Bedrohung ist, sondern Unterstützung. Deshalb wurde von Beginn an eng zusammengearbeitet: Fachleute aus der DRV BB gaben Einblicke in ihre Prozesse, erklärten, worauf es ankommt, und halfen, die Lösung praxistauglich zu machen. So entstand Vertrauen – und das Gefühl, Teil einer gemeinsamen Entwicklung zu sein.
Leise Innovation mit großer Wirkung
Das Ergebnis ist keine futuristische Vision, sondern eine pragmatische Verbesserung. Die Deutsche Rentenversicherung Berlin-Brandenburg zeigt, dass Digitalisierung in der Verwaltung nicht laut sein muss, um wirksam zu sein.
Künstliche Intelligenz kann Prozesse beschleunigen, ohne den Menschen zu ersetzen. Sie kann helfen, Komplexität zu ordnen, ohne Kontrolle abzugeben. Und sie kann beweisen, dass auch Behörden modern denken und handeln können – wenn sie den Mut haben, es auszuprobieren.
Ein Blick nach vorn
Nach der erfolgreichen Prototypphase steht nun der nächste Schritt bevor: 2026 soll die Lösung in den Produktivbetrieb gehen. Damit wird sie zum festen Bestandteil der täglichen Arbeit und zur Grundlage weiterer Digitalisierungsschritte.
Denn das Projekt ist nicht als Einzelanwendung gedacht, sondern als Startpunkt für eine breitere Entwicklung. Schon jetzt gibt es zahlreiche Ideen, wie die Lösung erweitert werden kann – etwa durch eine Ausweitung auf andere Antragstypen oder die Verknüpfung mit RPA-Systemen (Robotic Process Automation), um einzelne Bearbeitungsschritte teilautomatisiert auszuführen.
So entsteht Schritt für Schritt eine intelligente Prozesskette, in der Routinearbeit automatisiert und die Fachkompetenz der Mitarbeitenden gezielt eingesetzt wird.
Verwaltung zu modernisieren heißt nicht, sie ausschließlich neu zu erfinden. Es heißt, sie handlungsfähiger zu machen, Schritt für Schritt. Und manchmal beginnt der Wandel genau dort, wo man ihn am wenigsten erwartet: beim Rentenantrag.
Titelbild: Dr. Frank Oechsle auf dem 10. Zukunftkongress Staat & Verwaltung
anacision beim 4. ZuKo Sozialversicherungen
🗓️ 26. November, Berlin Marriott Hotel
➡️ Hier geht's zum Programm
anacision veranstaltet den Best-Practice-Dialog I.C.3 "Priorisierung im Antragsprozess - Warum Struktur mit KI Antragstaus in Rente schickt".