2. Digitale Justice Summit
© Simone M. Neumann

Schluss mit Papierkram

Die ehemalige Bundesministerin Brigitte Zypries im VdZ-Interview

In der Justiz wird ordentlich Staub aufgewirbelt – der digitale Wandel ist in vollem Gange. Die Generation der Babyboomer bewegt sich mit großen Schritten auf das Rentenalter zu. Außerdem häufen sich die Fließbandklagen in der Zivilgerichtsbarkeit, die ein automatisiertes Vorgehen notwendiger denn je machen. Vor diesem Hintergrund erscheinen die flächendeckende Einführung digitaler Prozesse und die Antwort der Justiz auf neue Geschäftsmodelle der Anwaltschaft unausweichlich. Welche Potenziale liegen in der Modernisierung und Digitalisierung der Justiz? Brigitte Zypries, ehemalige Bundesministerin für Justiz, Wirtschaft und Energie, beleuchtet im VdZ-Interview die aktuellen Herausforderungen, die Rolle des Bundes und die notwendigen praktischen Ansätze für das Justizwesen.

Verwaltung der Zukunft: Frau Zypries, Sie verfügen über weitreichende Expertise und Erfahrung im Bereich der Justizmodernisierung. Sie waren sieben Jahre lang Bundesjustizministerin in den Kabinetten Schröder II und Merkel I und haben auch heute noch viele Berührungspunkte mit der Justiz, unter anderem als Kongresspräsidentin des Digital Justice Summits. Welche würden Sie als die drei zentralen Herausforderungen der eJustice dieser Zeit identifizieren und warum?

Brigitte Zypries: Was zuerst erwähnt werden muss, ist: Es gibt einen akuten Personalmangel im deutschen Rechtswesen. Das ist nichts Neues, die Justiz ist unterbesetzt, seit ich in diesem Bereich tätig bin. Wir kommen also ohnehin schon von einem relativ niedrigen Personalstand. Bis 2030 werden mehr als 40 Prozent der Richter, Richterinnen und Staatsanwälte in den Ruhestand gehen. Diesem enormen personellen Aderlass wird man nicht nur durch Neueinstellungen begegnen können, es bedarf guter digitaler Anwendungen, also eJustice.

Brigitte Zypries ist ehemalige Bundesministerin und Kongresspräsidentin des Digital Justice Summit. Sie blickt auf 38 Jahre Arbeit in Recht und Politik zurück und war Mitglied der Kabinette Schröder II und Merkel I und IIII.

Zweitens müssen die Länder und der Bund erkennen, dass eine flächendeckende Durchdringung mit Technik nötig ist. Es gibt viele einzelne Pilotprojekte, die müssen jetzt auf ganz Deutschland ausgerollt werden. Wir müssen Prozesse automatisieren und uns dazu von erfolgreichen Modellen, wie sie von Start-ups entwickelt werden, inspirieren lassen. Drittens müssen Antworten auf die neuen Geschäftsmodelle der Anwaltschaft entwickelt werden. Für Blitzer.de, weniger Miete.de, Dieselklagen und andere Portale muss die Justiz Antworten finden, die die Justiz entlasten.

Ein rein logistischer Faktor, der eine weitere, große Hürde für den Fortschritt darstellt, ist das hohe Alter vieler Gerichtsgebäude. Das verkompliziert Modernisierungen jeglicher Art, denn obwohl sie ihren Charme haben, kann eine Sanierung schnell zu einem Fass ohne Boden werden. Die 200 Millionen Euro, die das Bundesjustizministerium bis 2026 für die Digitalisierung der Justiz zur Verfügung gestellt hat, sind da definitiv viel zu wenig. Aber vielleicht lassen sich damit gute Anwendungen finanzieren. Stephanie Kaiser, Produktentwicklerin bei DigitalService GmbH des Bundes, gab dazu auf dem Digital Justice Summit (DJS) einen interessanten Input. Die DigitalService GmbH entwickelt  Lösungen, die bundesweit einsetzbar sind. Sie verfolgt die Strategie, den Nutzen von Innovationen für die Justiz vor Ort konsequent zu analysieren, Systeme und Prozesse zu verbessern und weiterzuentwickeln. Davon brauchen wir mehr.

VdZ: Angesichts der erst allmählichen an Fahrt gewinnenden Modernisierung der Justiz interessiert mich Ihre Einschätzung zur Rolle des Bundes bei der Förderung und Entwicklung einer E-Justiz. Wo und wie sollte der Bund Ihrer Meinung nach aktiver werden?

Zypries: Die Rolle des Bundes sehe ich zweigeteilt. Erstens setzt der Bund den rechtlichen Rahmen. Das Justizministerium macht dazu in der Regel Vorschläge, hat also einen großen Einfluss. Wir haben bereits heute Gesetze im Gesundheitswesen, wie zum Beispiel die elektronische Patientenakte, die es seit 2021 gibt und in der medizinische Befunde und Informationen für alle gesetzlich Krankenversicherten umfassend gespeichert werden können. Diese Neuerung gibt es, weil der Bund beschlossen hat: Das machen wir jetzt so. Ähnlich könnte er also auch für die Justiz vorgehen. Zweitens hat der Bund die Aufgabe, gute Projekte – Modellprojekte – zu fördern und den Ländern zur Verfügung zu stellen. Und nicht zuletzt ist er Geldgeber für die Digitalisierung der Justiz, die wir in allen Gerichtsbarkeiten und Instanzen brauchen.

VdZ: Auf dem 2. Digital Justice Summit wurden eine Reihe von positiven Beispielen aus anderen Ländern vorgestellt, wie erfolgreiche digitale Justiz anderswo aussieht. Welches Land ist Ihrer Meinung nach ein großes Vorbild für Deutschland?

Zypries: Nachdem wir auf dem zweiten DJS durch Dr. Viljar Peep, den ehemaligen Vizekanzler des estnischen Justizministeriums, einen so umfassenden Einblick in das System von Estland gewinnen konnten, sehe ich das Land definitiv als Vorbild. Dort ist die gesamte Justizverwaltung online. Es gibt einen viel digitaleren und direkteren Informationsaustausch. Außerdem verfügt das Land über ein elektronisches Gerichtsinformationssystem: Fälle, die elektronisch eingehen, werden sofort an den zuständigen Richter oder die zuständige Richterin weitergeleitet. Es werden also keine schriftlichen Akten mehr angelegt, sondern alles läuft digital. Natürlich hat Estland andere Bedingungen, so wie kein Land dem anderen gleicht. Der Staat ist viel kleiner als Deutschland und vor allem nicht föderal. Die Justiz besteht aus nur drei Landesgerichten und zwei Verwaltungsgerichten. Trotzdem lohnt es sich immer, über den Tellerrand zu schauen, denn man kann immer voneinander lernen.

VdZ: Wie würden Sie die Steuerung des Justizsystems aktuell angehen, wenn Sie könnten?

Zypries: Es ist zwar schon eine ganze Weile her, dass ich Bundesjustizministerin war – von 2002 bis 2009 – aber damals hatte ich ja tatsächlich Einfluss auf das Geschehen. Zu der Zeit gab es jedoch noch ganz andere Probleme als heute, wir waren ja in den Anfängen und mit der Errichtung digitaler Nachtbriefkästen¹ befasst. 

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Heute muss es die Aufgabe der Regierungen von Bund und Ländern sein, die Digitalisierung der Justiz weiter voranzutreiben und auf die Agenda ganz nach oben zu setzen.

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Brigitte Zypries, Bundesministerin a. D.

Heute muss es die Aufgabe der Regierungen von Bund und Ländern sein, die Digitalisierung der Justiz weiter voranzutreiben und auf die Agenda ganz nach oben zu setzen. Das ist so bedeutsam, weil ein funktionierender Rechtsstaat essenziell für die Demokratie ist. Und wenn wir an die personellen Abgänge bis 2030 denken, ist klar, dass es es längst eine Minute vor zwölf Uhr ist, damit das Gerichtssystem weiter gut funktioniert. Für ein gutes Verfahren bei diesen Prozessen ist es nach meiner Erfahrung wichtig, dass die Spitze des Hauses die Projekte will und eng begleitet und die Menschen, die praktisch damit arbeiten müssen, in den Prozess der Entwicklung einbindet. Außerdem muss die Politik herausfiltern, wo Prozessordnungen angepasst werden müssen oder andere gesetzliche Regelungen nötig sind. Auf alle Fälle gilt: Eile ist geboten!


¹ Dabei handelt es sich um einen speziellen Briefkasten, in dem juristische Dokumente außerhalb der regulären Geschäftszeiten sicher und fristgerecht abgegeben werden konnten.