Autistische IT-Experten; Personal; Verwaltung; Idee; Innovativ
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„Sie finden keine Fehler, sie sehen sie einfach“

Um offene IT-Stellen in der Verwaltung zu besetzen: Nutzen Sie AI – Autistic Intelligence!

Woher gute IT-Leute nehmen? Zumal als Behörde! Demographischer und digitaler Wandel raubt Personalern unablässig den vermeintlich letzten Nerv, weil der Markt in vielen Bereichen schlicht leer gefegt ist. Es mangelt an langfristigen Konzepten, um bei anhaltend guter Konjunktur die Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt decken zu können. Um aber kurz- und mittelfristig einzelne Positionen zu besetzen, sind noch nicht alle Ideen ausgereizt. Und die öffentliche Hand hat hier gegenüber der Wirtschaft sogar Vorteile. Eigentlich.

Ja, die aktuelle Lage spiele ihnen in die Karten, erklärt Anika Mahla, Leiterin im Bereich Marketing & Kommunikation bei Auticon. Der IT-Dienstleister besetzt nämlich eine wirkliche Nische im IT-Bereich: Bundesweit stellt die Gesellschaft Menschen mit bescheinigtem Asperger-Autismus ein und vermittelt sie als Experten an Unternehmen.    

Heike Gramkow ist Leiterin der Auticon-Standorte in Hamburg und Bremen.
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Passende Umgebung gesucht  

„Auticon-Berater sind kreative Querdenker, die mit unkonventionellen Lösungsansätzen einen direkten Effizienzgewinn in Projektteams schaffen können“, sagt Mahla. Es geht darum, beiden Parteien – Unternehmen wie Beratern – zu nutzen: In der Wirtschaft sind Fachkräfte und Mitarbeiter mit besonderen Fähigkeiten rar und viel gefragt. Menschen mit Asperger-Autismus hingegen wollen gerne in „ihren“ Bereichen arbeiten, bringen außerordentliche Fähigkeiten mit, brauchen aber dafür eine passende Umgebung.

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Unsere Consultants besitzen eine sehr hohe Konzentrations-fähigkeit auch bei lang anhaltenden Routinetätigkeiten.

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Penibel, ausdauernd, unbestechlich 

 „Unsere Consultants besitzen eine sehr hohe Konzentrationsfähigkeit auch bei lang anhaltenden Routinetätigkeiten“, erklärt Heike Gramkow, Leiterin der Auticon-Standorte in Hamburg und Bremen. Hinzu kommt zumeist eine enorme Detailgenauigkeit: „Sie sehen und hören Dinge, die Nicht-Autisten kaum im Ansatz wahrnehmen – es geht dabei um eine sehr seltene Fähigkeit, visuelle und auditive Muster sofort zu erkennen“, so Gramkow. „Autisten finden keine Fehler, sie sehen sie einfach.“ Neben diesem intrinsisch motivierten Qualitätsbewusstsein „bestechen“ die IT-Berater weiterhin durch Ehrlichkeit und Unbestechlichkeit – Eigenschaften, die z. B. in sicherheitsrelevanten Bereichen unabdingbar sind.

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Es geht dabei um eine sehr seltene Fähigkeit, visuelle und auditive Muster sofort zu erkennen.

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Gewohnheitsmenschen mit Inselbegabungen

Mit diesen absolut logisch-analytischen Verhaltensweisen gehen auch ein paar andere Eigenschaften einher: Autisten sind oft Gewohnheitsmenschen. „Deshalb laufen Projekte bei uns niemals unter drei Monaten. Wir versuchen, unsere Leute möglichst über zwei oder drei Jahre unterzubringen, damit sie sich wohl fühlen.“ Auticon, das seine Berater festanstellt und in Kundenprojekten einsetzt, stellt seinen Beratern jeweils einen Job Coach bzw. Pädagogen zur Seite. Damit sollen schwierige Situationen erst gar nicht entstehen.   

Bei speziellen Aufgaben, an denen andere verzweifeln, legen Menschen mit Asperger-Autismus oft erst richtig los.
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Wissen, worauf zu achten ist

So sind unter den etwa 80 Consultants einige, die Probleme haben, mit Mimik oder Gestik zurecht zu kommen. „Manche mögen es nicht, wenn man ihnen die Hand gibt“, erklärt Gramkow. Andere könnten sogar länger krank werden, wenn Ihnen jemand an die Schulter fasst. „Das kann ganz freundlich gemeint sein, hat mitunter aber ungeahnte Konsequenzen.“ Viele Menschen sitzen ungern in einem Raum mit dem Rücken zur Tür – Autisten haben damit oft noch mehr Schwierigkeiten, weil sie immerzu im Blick haben wollen, wer kommt, geht und vielleicht etwas von ihnen will.

Auch „Zählen“ gehöre zu den „zwanghaften“ Begabungen, sagt die IT-Vertriebsexpertin. „Die Kantine ist deshalb mittags vielleicht kein so passender Ort, denn bei einigen ist damit zu rechnen, dass erst einmal alle Stühle und Tische gezählt werden.“ Das macht aber nichts.

Keine großen Small Talker – es geht schlicht um die Arbeit

Ihre Berater seien vor allem an der Arbeit interessiert, unterstreicht Gramkow. Weder brauche es Smalltalk noch alle paar Minuten einen neuen Kaffee und sie wollen auch nicht über das Wetter reden. Stattdessen sind (IT-)Prozesse bzw. Unzulänglichkeiten und Inkompatibilitäten innerhalb von Systemen spannend. Mit ihren Fertigkeiten sind sie in der Lage, sowohl an Routineprozessen als auch an komplexen Problemen sehr ausdauernd zu arbeiten. Richtig eingesetzt, können die Consultants dadurch Organisationen in die Lage versetzen, etwa Vorhersagen zu treffen, wann es wo zu Problemen kommen kann. Über 80 Prozent ihrer Mitarbeiter seien mit der Entwicklung und Tests rund um die Bereiche Künstliche Intelligenz und Big Data befasst.


In der ersten Phase stimmen sich die Job Coaches von Auticon zumeist wöchentlich mit ihren Ansprechpartnern in den Unternehmen ab. Die weitere Betreuung läuft je nach Bedarf. 


Aufklärung und offener Umgang innerhalb der Belegschaft

Um Bedürfnissen und Chancen gleichermaßen gerecht zu werden, ist ein offener Umgang wichtig. Zumindest sollte die Führungsebene die entsprechende Abteilung und gerade die Kollegen in der direkten Umgebung aufklären. „Dafür bieten wir natürlich jederzeit unsere Unterstützung an“, so Gramkow. In der ersten Phase stimmen sich die Job Coaches von Auticon zumeist wöchentlich mit ihren Ansprechpartnern in den Unternehmen ab. Die weitere Betreuung läuft je nach Bedarf.  

Die öffentliche Hand: an sich ein Heimspiel

Nun liegt die Vermutung nahe, dass gerade öffentliche Einrichtungen geeignete Arbeitsorte für Autisten sein können. „Zumindest haben wir hier mit den Behindertenbeauftragten „natürliche Verbündete“ und eine Art Türöffner auf unserer Seite“, erklärt Gramkow, die seit 20 Jahren in IT-Projekten arbeitet.

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Unsere Berater können aber nicht ein halbes Jahr zu Hause sitzen und darauf warten – sie werden krank, wenn nichts zu tun ist.

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Eine direkte Zusammenarbeit hat sich nach den bisherigen Erfahrungen trotzdem bislang als schwierig erwiesen: Lange Bewerbungsverfahren und Vergabeprozesse erschweren vielen Interessenten ohnehin den Zugang in die Verwaltung. Das Prozedere ist oft so strukturiert, dass es viel Zeit und Ressourcen in Anspruch nimmt, sich zu bewerben oder den Zuschlag für öffentliche Aufträge zu bekommen. Auch mit den Krankenkassen sei es nicht immer einfach, so Gramkow. „Unsere Berater können aber nicht ein halbes Jahr zu Hause sitzen und darauf warten – sie werden krank, wenn nichts zu tun ist.“

Hamburger Landesbetrieb machte gute Erfahrungen

Eine der öffentlichen Referenzen ist das Hamburger Zentrum für Personaldienste (ZPD Hamburg), das als Landesbetrieb zentraler personalwirtschaftlicher Dienstleister für die Freie und Hansestadt ist. „Wir waren mit der Arbeit unserer Beraterin sehr zufrieden“, erklärt Geschäftsführer Klaus Schimitzek. Ähnlich wie andere Behörden ist das ZPD fortlaufend mit Change Managements befasst und digitalisiert schrittweise verschiedene Fachverfahren. Der Landesbetrieb greift dafür regelmäßig auf externe Beratungsleistungen zurück.

Das Hamburger Zentrum für Personaldienste (ZPD) ist als Landesbetrieb zentraler personalwirtschaftlicher Dienstleister für die Freie und Hansestadt, unterstützt die Personalverwaltungen der Behörden, Landesbetriebe sowie weiterer externer Einrichtungen und betreut insgesamt etwa 67.000 Beamten- und Zusatzversorgungsempfänger in Hamburg.
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Ineffizienzen in der analog-digitalen Prozesskette aufspüren

Vor zwei Jahren stellte man im Rahmen der Einführung eines Input-Managements fest, dass es rund um die Abwicklung des Briefverkehrs durch die hauseigene Poststelle zu Reibungsverlusten kam. Briefe werden hier geöffnet, gescannt, validiert und abgelegt – man suchte gezielt nach jemanden, der Ineffizienzen in der analog-digitalen Prozesskette aufspürt und daraus Optimierungsvorschläge bereitet. „Unsere Auticon-Beraterin war in der Lage, sich jeweils völlig auf den zu betrachtenden Teilabschnitt zu fokussieren, diesen zu durchdenken und gegenüber unseren Mitarbeiter freundlich zu hinterfragen.“ Das mag erst einmal trivial klingen, braucht aber neben ausgezeichneten analytischen Qualitäten die Fähigkeit, konstruktiv mit verschiedenen Stellen und Mitarbeitern an der Basis zusammenzuarbeiten.

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Sie hat in drei Monaten etwa 60 Verbesserungs-vorschläge gemacht.

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Große Akzeptanz auf der Arbeits- wie Managementebene

„Den Briefen sozusagen immer auf der Spur hat sie in drei Monaten etwa 60 Verbesserungsvorschläge gemacht, die sowohl auf der Management- als auch auf der Arbeitsebene große Akzeptanz erfuhren“, so Schimitzek. „Dieser Umfang hat uns sehr positiv überrascht!“ Zudem brauchte es in diesem Fall keine besondere Form der Betreuung. „Die Beraterin agierte sehr selbständig!“ Der Leiter des ZPD kann sich deshalb eine erneute Zusammenarbeit bei einem ähnlichen Projekt vorstellen.

Klaus Schimitzek ist Geschäftsführer des Hamburger Zentrums für Personaldienste (ZPD Hamburg).
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Während Verträge mit privatwirtschaftlichen Unternehmen manchmal schon nach drei Tagen unterschrieben auf den Tisch lägen, hat Auticon mit der öffentlichen Seite bisher aber fast ausschließlich mittelbar durch Partnerunternehmen zu tun, sagt Gramkow. Dabei geht es zumeist um kleinere Aufgaben im Rahmen von Sub-Aufträgen.

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Wir haben nicht gezielt gesucht, sind wegen positiver Berichte aber auf die Auticon-Berater gekommen und wollten das dann mal ausprobieren.

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Es geht vor allem um Unteraufträge

Ähnlich ist es auch in Hamburg. Unter Dutzenden gleichzeitig laufenden IT-Projekten in der Hamburger Verwaltung besitzen zwar viele einen größeren Umfang. Das sei aber oft mit langfristigen Rahmenverträgen verbunden und auch über den eigenen IT-Dienstleister Dataport geregelt, erklärt Schimitzek. Kleinere Aufgaben, die sich besser „zum Ausprobieren“ eigneten, gebe es hingegen nur begrenzt. „Spezielle Berater suchen wir dann meist für Unteraufträge großer Projekte.“

Nicht zu lange warten: Mit wochen- oder gar monatelangen Wartezeiten ist weder Behörden noch Beratern ein Gefallen getan.
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Mit Blick auf das Inputmanagement-Projekt hat sich das ZPD wegen des begrenzten Umfangs und dem damals dringenden Handlungsbedarf für eine freie Vergabe entschieden. „Wir haben nicht gezielt gesucht, sind wegen positiver Berichte aber auf die Auticon-Berater gekommen und wollten das dann mal ausprobieren.“ Nach einer Test-Woche entschieden sich beide Seiten dafür, das Projekt zusammen durchzuführen. Der Personalrat musste nicht eingebunden werden.

Fördergelder und Zuschüsse durch Job Center und Rentenversicherung

Angesichts der schwierigen Lage, überhaupt noch an qualifizierte (und bezahlbare) IT-Fachkräfte zu gelangen, sind öffentliche Einrichtungen weiterhin gefordert nach neuen Lösungen zu suchen. Auticon bietet hier sicherlich die eine oder andere Nischenlösung – an der beispielweise auch die Job Center durch Kooperationen und Fördergelder mitwirken. Je nach Situation kann sich ebenso die Rentenversicherung etwa mit Zuschüssen an der Finanzierung der Job Coaches beteiligen. Gut geplant und in den richtigen Umständen können so sowohl Menschen mit Asperger-Autismus in Beschäftigung gelangen als auch die Verwaltung an ganz besonderen Mitarbeitern gewinnen.