verwaltung
© fulopszokemariann/pixabay

Warum kommt die Digitalisierung der Verwaltung in Deutschland seit 30 Jahren nicht voran?

Gedanken zu möglichen Ursachen von Prof. Robert Müller-Török

Deutschland war, wie durch heute noch existierende Industrieunternehmen gut belegt ist, in der Industrialisierung um 1900 eines der führenden Länder dieser Erde. Der Einsatz dieser neuen Technologien, die zumeist disruptive Technologien waren, wurde allgemein begrüßt. So wurden in der Armee Maschinengewehre und Konservendosen, in den Büros Schreibmaschinen und Fahrstühle und auf den Straßen Automobile und Ampeln eingesetzt. All diesen neuen Erfindungen war etwas gemein: Made in Germany. Deutschland war damals nicht Technologieempfänger, sondern Hersteller, Weiterentwickler und auch Erfinder von neuer Technologie.

Wie steht es nun mit der Digitalisierung? Hier ist Deutschland heute definitiv nicht Technologieerfinder und -exporteur, sondern zahlender Empfänger von Technologie, die zumeist im pazifischen Raum erfunden und betrieben wird. Ein Blick auf den DAX 40 genügt: Abgesehen von einem Onlinedienstleister wie Deliveryhero, der für 2023 auf eine schwarze Null im Ergebnis hofft und der Tagespresse nach bald aus dem DAX-40 entfernt und 
durch ein produzierendes Unternehmen ersetzt wird, gibt es neben dem Siemens-Spinoff Infineon letztlich nur einen einzigen echten IT-Konzern, nämlich SAP. Dieser hat allerdings seit seiner Gründung 1972 auch schon ein halbes Jahrhundert erlebt. Unternehmen wie Google, Apple, Alibaba & Co. haben ihre Heimat allesamt außerhalb Deutschlands. 

Es scheint, wenn man allein nur den Umgang von Schulen und Hochschulen mit Videokonferenz-Tools wie WebExZoom oder Kollaborationsplattformen wie MS Teams ansieht, eine Scheu davor zu dominieren, diese Produkte einzusetzen. Auch rechtlich seit Jahrzehnten saubere, glasklare und woanders längst etablierte Technologien, wie die qualifizierte elektronische Signatur, fristen in Deutschland ein Mauerblümchendasein. Auch Werkzeuge und Technologien, deren wirtschaftliche Sinnhaftigkeit jedem Politiker und obersten Verwaltungsbeamten einleuchten muss, wie eine zentralisierte elektronische Beschaffungsplattform für den öffentlichen Dienst, ist in Deutschland nicht umsetzbar. 

Was ist die Ursache dafür?

Es gibt sicherlich keine singuläre Ursache dafür, dass Deutschlands Verwaltungen in den einschlägigen Statistiken weit hinter mittlerweile fast allen anderen europäischen Staaten hinterherhinken. Die EFI-Berichte, die mit „viel Luft nach oben“ das deutsche e-Government abstrafen, sind allgemein bekannt, ebenso die DESI-Berichte der Europäischen Kommission. Doch Ankündigungen deutscher Spitzenpolitiker, wie die von Gerhard Schröder „Die Daten müssen laufen, nicht der Bürger“, haben hier nach mittlerweile 21 Jahren jegliche Glaubwürdigkeit verloren.
Dass der Verwaltung 2021 vom wissenschaftlichen Beirat beim BMWi dann ein vielfältiges „Organisationsversagen“ bescheinigt wurde, ist nicht überraschend. 

Zu wenig Digitalisierungsfächer in der Ausbildung der Verwaltungsbeamten?

Nimmt man die Modulhandbücher deutscher Verwaltungshochschulen zur Hand, so sieht man nur wenig Anteil der Digitalisierungsfächer. An den Verwaltungshochschulen in Baden-Württemberg beispielsweise stehen im Grundstudium Public Management 4 Semesterwochenstunden Informatik vergleichsweise 10 Semesterwochenstunden Zivilrecht oder 8 Semesterwochenstunden „Psychologie, Soziologie und soziale Kompetenzen“ gegenüber. Diese 4 Semesterwochenstunden Informatik sind, wenn man sie aufschlüsselt, im besten Fall ohne Feiertage und dergleichen netto 66 Stunden á 45 Minuten oder effektiv 49,5 Stunden Informatikunterricht. Dass die Informatikkenntnisse demnach im Vergleich zu anderen, vor allem den Rechtskenntnissen vernachlässigbar sein müssen, ist evident. Ähnlich erscheint die Situation in der Beamtenausbildung des Landes Mecklenburg-Vorpommern: Dort stehen im Grundstudium 5 Leistungspunkten „Information und Kommunikation“ 85 Leistungspunkte anderer Fächer gegenüber. Dieses Modul „Informatik und Kommunikation“ beinhaltet neben Informationstechnik dort auch noch Psychologie und Kommunikation, somit bleiben dort 72 Stunden Informatik. Für die anderen Verwaltungshochschulen in Deutschland entsteht gerade eine detaillierte Übersicht, die im Laufe des Sommers publiziert werden wird.

Fehlender politischer Wille?

Digitalisierung bedeutet, mit geringerem personellem Aufwand die gleiche oder eine quantitativ wie qualitativ bessere Leistung anzubieten. Online-Banking eröffnete Bankdienstleistungen von Zuhause 24/7 – und führte dazu, dass die Anzahl der nicht so leistungsfähigen Filialen deutlich, deutlich reduziert wurde und Personal in diesem Bereich ebenso massiv abgebaut wurde. Diese Entwicklung wurde zwar von Gesetzgebern flankiert, zum Beispiel durch die Zahlungsdiensterichtlinien der EU, aber originär waren sie vom höchsten Souverän gefordert, dem Finanzdienstleister unterstehen: Dem Markt. 

Sieht man sich die „Öffentliche Beschäftigung im weiteren Sinne“ an, so hat Deutschland nach den Niederlanden die meisten Beschäftigten in verwalteten Behörden pro tausend Einwohner– und doppelt so viel wie beispielsweise Österreich, drei Mal so viel wie Italien und vier Mal so viel wie Portugal.

Allein die KFZ-Zulassungsstellen, von denen es in Deutschland 854 gibt, wurden in Österreich zum 01.01.1995 abgeschafft (das erledigen dort die KFZ-Versicherungen), im ganzen United Kingdom gibt es eine Einzige. Dass die KFZ-Zulassung vollständig digitalisierbar ist und keiner eigenen öffentlich Bediensteten bedarf, belegen die anderen Staaten, die ohne 854 Zulassungsstellen auskommen. 

German Angst, gefördert von rechtlichen Bedenken?

Auch ein einfacher Satz wie „Ich habe datenschutzrechtliche Bedenken“ wirkt in der deutschen Verwaltung faktisch stärker als das Veto des Volkstribuns im antiken Rom. So, wie das letztere jeden Senatsbeschluss und jedes Gesetz zu Fall brachte, bringt ersterer häufig den Einsatz jeglichen Digitalisierungswerkzeuges zu Fall. Hilfsweise ermöglichen Verwaltungsverfahrensgesetze regelmäßig nicht den Einsatz solcher Werkzeuge, sondern verhindern ihn. So scheitert die flächendeckende Einführung qualifizierter elektronischer Signaturen an dem in 17 Bundes- und Landesverwaltungsverfahrensgesetzen im § 3a niedergeschriebenen freien Willen jeder einzelnen Behörde, ob sie denn signierte Dokumente akzeptieren möchte oder nicht. Während der Bundesgesetzgeber in § 87a AO teilweise genau die gleichen Behörden dazu zwingt, in Abgabensachen signierte Dokumente zu akzeptieren, stellen ihnen die andere Regelungen das frei. So prangt auch auf den Webseiten an sich digital-fortschrittlicher Städte wie Ulm im Impressum der Satz: „Leider kann die Stadt Ulm aus technischen und organisatorischen Gründen zurzeit auch noch keine elektronischen Signaturen auf Echtheit und Gültigkeit prüfen. Dies hat zur Folge, dass Sie Dokumente, die einem Schriftformerfordernis unterliegen, nicht in elektronischer Form übersenden können. Wir bitten Sie deshalb, in diesen Fällen auf die papiergebundene Kommunikation auszuweichen.“ Währenddessen seit über zwei Jahren die kleinste Dorfsparkasse und die kleinste Raiffeisenbank gezwungen ist, im Rahmen der zweiten Zahlungsdiensterichtlinie eine 2-Faktoren-Authentifizierung anzubieten und das auch problemlos schafft.

Fazit und Handlungsbedarf

Es wäre an der Zeit, einen klaren Willen zur Digitalisierung auszudrücken. Denn letztendlich können Gesetze auch geändert werden. Und gerade der erwähnte § 3a der zahlreichen Verwaltungsverfahrensgesetze könnte so lauten wie der § 1a des österreichischen E-Governmentgesetzes: „Jedermann hat in den Angelegenheiten, die in Gesetzgebung Bundessache sind, das Recht auf elektronischen Verkehr mit den Gerichten und Verwaltungsbehörden. Ausgenommen sind Angelegenheiten, die nicht geeignet sind, elektronisch besorgt zu werden.“ Er gibt somit jedem Bürger das Recht, mit der Behörde digital zu verkehren. Wären dann auch flächendeckend Menschen in der Verwaltung, die im Laufe ihrer Ausbildung einschlägige Werkzeuge und Methoden kennen- und nutzen gelernt haben, steht einer effektiven Digitalisierung der Verwaltung nichts mehr im Wege. 

Nehmen Sie Kontakt zum Autor/zur Autorin auf

Sie haben Interesse an einem Erfahrungsaustausch oder weiteren Informationen? Ihr Feedback und Ihre Fragen leiten wir direkt an den Verfasser / die Verfasserin des Textes weiter.