Ein Smartphone mit einem E-Ticket
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Woran es wirklich im e-Government fehlt

ELSTER online oder E-Ticket? Was erfolgreiche Verwaltungsdigitalisierung bedeutet

Sind Mängelmelder eine Digitalisierungsleistung der Verwaltung oder nicht? Die Meinungen gehen da auseinander. Zwar beziehen sie Bürger*innen in das Verwaltungshandeln mit ein, nutzen aber eine weltweit verbreitete Technologie. Und wie sieht es mit der Online-Bestellung von Theaterkarten und ÖPVN-Tickets auf dem Smartphone aus? Prof. Robert Müller-Török analysiert in einer Replik auf das VdZ-Interview mit CIO Prof. Andreas Meyer-Falcke das Wesen dieser drei Online-Angebote und kommt nach einem Blick auf die Online-Steuererklärung ELSTER zu dem Fazit: „Die deutsche Verwaltung, gleich auf welcher staatlichen Ebene, ist unterdigitalisiert und kann im europäischen Vergleich nicht annähernd mithalten – ausgenommen die Steuerverwaltung.“

Was ist eine Digitalisierungsleistung der Verwaltung?

Der CIO des Landes Nordrhein-Westfalen, Prof. Dr. med. Andreas Meyer-Falcke, sagte in einem Interview mit VdZ im März 2021 unter anderem: „Die Digitalisierungsleistung unserer Verwaltungen nur am OZG zu messen, greift zu kurz: Schon heute ist die Verwaltung in Bund, Ländern und vor allem Kommunen mit vielen digitalen Produkten am Markt. Denken Sie nur an den weit verbreiteten Mängelmelder, den medienbruchfreien Prozess bei der Bestellung von Karten fürs städtische Theater oder das Ticket auf dem Smartphone im Öffentlichen Nahverkehr.“

Es stellt sich zunächst die Frage, ob die genannten Beispiele tatsächlich Digitalisierungsleistungen der Verwaltung sind; in weiterer Folge die Frage, was „mit Produkten am Markt sein“ bedeutet.

Mängelmelder

Was den Mängelmelder betrifft, so handelt es sich hierbei um ein Verfahren und eine dahinterliegende, sehr einfach umzusetzende Technologie, welche weltweit, auch in Peshawar, Pakistan, von der Accra Metropolitan Assembly in Ghana oder der Johannesburg Road Authority eingesetzt wird. Die Technologie dahinter ist beispielsweise FixMyStreet, eine Crowdsourcinglösung aus dem Jahr 2007; alternativ eine schnell zu programmierende Webseite mit einer kleinen Datenbank dahinter, ohne große Integration und daher Umsetzungsaufwand. Hierbei handelt es sich um keine Digitalisierungsleistung der Verwaltung, sondern um den Einsatz eines seit langem weltweit verbreiteten, einfachen Werkzeugs.

Theaterkarten

Was die Bestellung von Karten betrifft, ist dies eine Dienstleistung, mit der nicht die Verwaltung, sondern Wirtschaftsunternehmen wie Eventim oder Münchenticket „am Markt“ sind – wenn eine Verwaltung ein gekauftes Produkt einsetzt, ist sie genauso ein Kunde wie viele, viele andere. „Am Markt“ ist derjenige, der das Produkt herstellt und verkauft, nicht derjenige, der es kauft und konsumiert. Dass die Oper am Rhein in Düsseldorf einen eigenen Ticket-Webshop betreibt, der sich bei näherer Betrachtung als „powered bei EVENTIM.inhouse“ herausstellt, also eingekauft ist, ist keine Digitalisierungsleistung der Verwaltung, sondern normales, marktkonformes Verhalten eines Theaters oder Kinos. Auch in Agartala (indischer Bundesstaat Tripura) kann man Kinotickets online buchen. Dass der Betrieb von staatlichen Theatern nicht zum Kerngeschäft der Verwaltung gehört, da die Verwaltung hier weder hoheitlich tätig ist noch Theater zur Daseinsvorsorge zählen, kommt hier noch erschwerend dazu. Anders verhielte es sich bei einer elektronischen Akte, die zwar auch eingekauft ist, aber den Kernbereich der Verwaltung betrifft. Leider ist eine solche in NRW eben erst in Einführung begriffenzwei Jahrzehnte nach Österreich beispielsweise.

ÖPNV-Tickets

Das Nahverkehrsticket auf dem Smartphone erfordert eine nähere Betrachtung der Funktionsweise des ÖPNV in Deutschland, nicht nur in NRW: Die meisten Fahrgäste des ÖPNV fahren entweder mit einem Papierticket aus einem Automaten oder einem Aboticket – zumeist ein Stück Papier, gelegentlich mit einem Lichtbild und fast immer ist, auch in Düsseldorf und Köln, das Mitführen eines amtlichen Lichtbildausweises Pflicht. Diese Vorgehensweise hat folgende Nachteile:

  1. Das Verkehrsunternehmen hat keinerlei Daten über die tatsächlich zurückgelegten Fahrgastkilometer und über die Auslastung der Linien und Fahrzeuge. Denn der Fahrschein gilt für eine Zone – ob der Fahrgast dann damit S-Bahn (Deutsche Bahn), Straßenbahn (Rheinbahn) oder Bus (Subunternehmer) fährt, bleibt mangels Aufzeichnungen völlig verborgen.
  2. Dadurch ist eine Kostenrechnung, das heißt beispielsweise eine Vergütung von Subunternehmern auf Basis tatsächlich erbrachter Fahrgastkilometer unmöglich und diese muss hilfsweise auf Basis von Schätzungen, die auf einmal alle paar Jahre stattfindenden Fahrgastzählungen beruhen, erfolgen. Diese sind reine Momentaufnahmen.
  3. Eine Linien- und Kapazitätsplanung auf Basis solcher „Daten“ ist zwangsläufig suboptimal und entspricht nicht der tatsächlichen Nachfrage – denn die ist unbekannt.
  4. Die Verkehrsunternehmen haben deshalb nur eine höchst unvollständige Vorstellung, wie voll oder leer die Fahrzeuge auf der Straße sind.
  5. Kontrollen sind aufwändig und müssen manuell durchgeführt werden – allein 120 Kontrolleure bei der Düsseldorfer Rheinbahn.

Daneben gibt es noch viele weitere, allesamt papiergebundene Ticketformen wie zum Beispiel das kostenlose Anschlussticket der Bahn oder den Schwerbehindertenausweis (zwar seit 2013 eine Plastikkarte, aber „digitalisierungsfrei“, das heißt ohne Chip). Papiertickets fakultativ als Handytickets anzubieten bedeutet eine Digitalisierung eines kleinen Teils des Prozesses – und ist so wenig eine wirklich digitalisierte Verwaltungsleistung wie eine PDF-Datei auf einer kommunalen Webseite anstelle eines Formularvordrucks Digitalisierung der zugrundeliegenden Leistung bedeutet.

Das Smartphoneticket wird im besten Fall von einem kleinen Teil der Fahrgäste genutzt und lässt die Möglichkeiten der Digitalisierung  zum aller größten Teil ungenutzt. Alternative Konzepte, die eine echte und durchgängige Digitalisierung bedeuten, gibt es in anderen Ländern, so zum Beispiel in London die Oyster Card. Die Transport for London Authority (TfL) verfügt über vollständige Bewegungsdaten aller Fahrgäste, auch für jede U-Bahnstation die exakten Passagierzahlen, die als Grundlage für Linien- und Kapazitätenplanung verwendet werden. Durch eine einfache Anonymisierung der Daten kann sichergestellt werden, dass der Datenschutz gewahrt bleibt – diese Technologie wird bereits seit 2003 eingesetzt, als das Vereinigte Königreich noch Mitgliedsstaat der Europäischen Union war und EU-Datenschutzstandards erfüllt werden mussten, und blieb auch nach Inkrafttreten der DSGVO in Betrieb.

Was bedeutet es, eine Verwaltungsleistung zu digitalisieren?

Prof. Dr. med. Andreas Meyer-Falcke hat völlig zurecht gesagt, dass „Verwaltungsdigitalisierungs-Projekte […] dann besonders gelungen [sind], wenn die diesbezüglichen Online-Dienste eine spürbare Entlastung für die Bürgerinnen und Bürger mit sich bringen, wenn sie medienbruchfrei von Anfang bis Ende funktionieren, von [...] Antragstellung über Unterlagenbereitstellung und Bezahlung bis zur Bescheiderteilung eben digital.“ – also durchgängig digitalisiert. Dem ist hinzuzufügen, dass der gesamte Prozess neu gedacht und gestaltet werden muss. Dazu bedarf es einer Basisinfrastruktur, die in Deutschland auch 2021 noch weitestgehend fehlt – um das unschöne Wort „völlig“ zu vermeiden. Diese besteht vor allem aus zentralen Registern, einer tatsächlich verbreiteten eID mit Signaturfunktion, elektronischer Zustellung, einem verbindlichen Styleguide, elektronischer Bezahlung und natürlich einer e-Akte. Dass De-Mail keine eID-Infrastruktur ist, sondern ein „toter Gaul“, hat mittlerweile auch der Vorstand der Deutschen Telekom AG erkannt.

Ein kurzer internationaler Vergleich

Betrachtet man beispielsweise das e-Government-Angebot der Republik Moldau, so fällt auf, dass dort Leistungen bereits seit langem angeboten, eingeführt und nachgefragt werden, von denen man in Deutschland träumt. Dies betrifft vor allem elektronische Register, die das Fundament eines jeden e-Government darstellen. Hier ist nicht nur ein elektronisches Meldewesen zu nennen, sondern beispielweise auch ein elektronisches Grundbuch. Dies zeigt folgender Vergleich:

  1. In Deutschland ist man seit wenigstens 2004 „stets bemüht“, ein bundeseinheitliches elektronisches Datenbankgrundbuch einzuführen. Es ist bislang noch immer nicht fertiggestellt.
  2. Im europäischen Justizportal kann man nachlesen, wie es bei den anderen steht und wer über ein elektronisches Grundbuch verfügt:
    1. Österreich seit 1984
    2. Niederlande seit 1985
    3. Griechenland seit 2003
    4. Ungarn seit 2003
    5. Slowakei seit 2004
    6. Italien seit 2007
    7. Bulgarien seit 2009

Dass ein elektronisches Grundbuch nicht gerade „rocket science“ ist, sondern eine vergleichsweise einfache IT-Anwendung, die noch dazu eine Kernaufgabe eines Rechtsstaates betrifft, bedarf keiner großen Erläuterung.

Das gallische Dorf: Die Finanzverwaltung

Betrachtet man die Finanzverwaltung, so fällt auf, dass dort Verwaltungsleistungen tatsächlich abschließend erledigt werden können und die Akzeptanz der Nutzer erheblich höher ist. Auch wenn man die „unfreiwilligen Nutzer“, das heißt diejenigen, die per Gesetz gezwungen sind, ELSTER zu verwenden, abzieht, bleiben immer noch zig Millionen übrig:  Von den 2020 übermittelten 28,2 Millionen Einkommenssteuererklärungen waren sicherlich nicht alle Selbstständige USt-Pflichtige, sondern zig Millionen Steuerzahler, welche freiwillig diese digitalisierte Verwaltungsleistung anwendeten.

ELSTER bietet, im Verbund mit privatwirtschaftlich angebotenen Steuerprogrammen, für den einfachen Bürger eine kostengünstige und effiziente Digitalisierung einer früher ebenso papiergebundenen wie umständlichen Verwaltungsleistung.

Die Ursachen, warum es hier funktioniert, sind aus Sicht des Autors

  1. Die eID- und Signaturproblematik ist hier gelöst. Die ELSTER-Zertifikatdatei ist zwar nur eine fortgeschrittene elektronische Signatur nach eIDAS, aber das genügt und löst das Problem. Nicht lösen tut es hingegen ein bloßes Login mit User-ID und Passwort, wie das baden-württembergische Landesamt für Besoldung und Versorgung dieser Tage schmerzlich via VG Karlsruhe feststellen musste.
  2. Eine abschließende Erledigung ist möglich, das heißt Papierbriefverkehr ist entbehrlich geworden.
  3. Die notwendigen Register und Identifikationsnummern existieren. Ein Bundeszentralamt für Steuern existiert und vergibt Steueridentifikationsnummern, während es kein „Bundeszentralmeldeamt“ gibt, sondern circa 5.100 kommunale Meldebehörden.
  4. Die Rechtsvorschriften sind angepasst und wurden, beispielsweise auf dem Gebiet der zusammenfassenden Meldung im Umsatzsteuerwesen, durch einen beharrlichen (EU-)Gesetzgeber erzwungen. Eine Regelung analog zum § 3a VwVfG, wonach es jeder Behörde freigestellt ist, elektronische Kommunikation zu akzeptieren, ist hier glücklicherweise für den funktionierenden Binnenmarkt unterblieben.
  5. Last but not least, der Druck der Wirtschaft, hier funktionierende digitale Lösungen zu haben, war hinreichend.

Fazit und Empfehlung

Die deutsche Verwaltung, gleich auf welcher staatlichen Ebene, ist unterdigitalisiert und kann im europäischen Vergleich nicht annähernd mithalten – ausgenommen die Steuerverwaltung. Diese Gewissheit hat sich, auch im Lichte der gegenwärtigen COVID-19-Pandemie, allgemein durchgesetzt – in Wissenschaftskreisen war sie bereits seit längerem gesichertes Wissen.

Ich empfehle vor allem anderen, die Situation nicht weiter schönzureden, indem nicht zur Verwaltung gehörende Produkte als „Verwaltungsleistung“ vereinnahmt werden – sondern endlich die Basisinfrastruktur zu schaffen: Register, eID, e-Akte und dann die notwendigen Services. 

CIO Prof. Andreas Meyer-Falcke: „Die Digitalisierungsleistung unserer Verwaltungen nur am OZG zu messen, greift zu kurz“
CIO Prof. Andreas Meyer-Falcke

CIO Prof. Andreas Meyer-Falcke: „Die Digitalisierungsleistung unserer Verwaltungen nur am OZG zu messen, greift zu kurz“

Der CIO des Landes Nordrhein-Westfalen Prof. Andreas Meyer-Falcke zum Stand der OZG-Umsetzung

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