Flüchtling Einwanderer Immigrant Migrant Migration Integration Syrian children standing outside their tent at the Zaatari refugee camp in Mafraq, Jordan
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Innovative Flüchtlingshilfe und Migrationspolitik – ein anderer Blick auf Afrika

Hilfsbedürftige mit smarten Technologien, Vernetzung und Co-Creation zu Prosumern machen / Interview mit Kilian Kleinschmidt

Ist unsere Perspektive auf Flucht und Migration zeitgemäß? Hilft unsere Hilfe wirklich? Was können Anreize zu mehr Eigeninitiative und Wirtschaftlichkeit bewirken? Was hat sich durch Digitalisierung und Vernetzung verändert? Ein Interview über neue Flüchtlingshilfe und proaktive Migrationspolitik mit Kilian Kleinschmidt, langjähriger leitender UNHCR-Mitarbeiter und Gründer der Innovation and Planning Agency (IPA).
Kilian Kleinschmidt war mehr als 25 Jahre lang für das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) tätig, bevor er die Innovation and Planning Agency (IPA) als Startup gründete. Er war in zahlreichen Ländern, vor allem in Afrika, Südosteuropa und Asien, in unterschiedlichsten Krisensituationen und in unzähligen Flüchtlingslagern im Einsatz. Bekannt wurde er als “Bürgermeister von Zaatari”, als er in Jordanien das zweitgrößte Flüchtlingslager der Welt leitete. Er steht für innovative Ansätze in der Flüchtlingshilfe und eine proaktive Position in der Migrationspolitik, hat mehrere Bücher publiziert und war in Deutschland sowie Österreich als Regierungsberater tätig.
© Kilian Kleinschmidt

VdZ: Ihr Name steht für innovative Ansätze in der Flüchtlingshilfe und eine proaktive Migrationspolitik. Was würden Sie gern anders machen, als wir es heute tun?

Kleinschmidt: Das wirkliche Problem ist, dass wir endlich den Narrativ über das Thema Flucht und Migration grundlegend verändern müssen, sonst kommen wir nicht weiter. Die Menschheit hat sich aus Flucht und Migration entwickelt – die wenigsten Menschen sind jemals zurückgekehrt, sonst würden wir noch in unseren Höhlen in Ostafrika leben und ganz bestimmt keinen Tesla vor der Höhle stehen haben und über IoT und Roboter reflektieren. Wir schreiben den Armen vor, dass sie unbedingt wieder zurückkehren wollen und dass sie mit unseren Almosen bis dahin zufrieden sein sollen. 

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Die Menschheit hat sich aus Flucht und Migration entwickelt

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Venedig aus Flucht entstanden

Venedig ist aus Flucht entstanden – so wie auch die meisten unserer Städte als Orte der Sicherheit und der Perspektiven entstanden sind. Fünf Millionen Menschen migrieren augenblicklich jeden Monat vom Land in die Städte – zwei Milliarden werden das in den nächsten 25 Jahren tun. Eine Milliarde Menschen sind augenblicklich irgendwie in Bewegung und das ist Teil der Evolution. Transformation findet statt und wir müssen diese Transformation begleiten, statt zu versuchen, sie zu verhindern.

Bildung vermitteln, statt Menschen sortieren

Es geht nicht darum, Migration zu verhindern, sondern darum, es so vielen Menschen wie möglich zu ermöglichen, in den globalen „Mobilitätspool“ zu gelangen; Menschen, die entscheiden können, wo und wie sie leben können und wollen. Wir als Deutsche zum Beispiel können diese Entscheidungen weitgehend treffen. Unser Pass und unser Wohlstand erlaubt uns das. Dieses Privileg zu teilen, muss unser Ziel sein. Wenn wir denken, dass es reicht, die „Armen“ mit einem Brunnen oder drei Aspirin-Pillen zufriedenzustellen, und das Fluchtursachenbekämpfung nennen, dann verkennen wir die Kraft der Digitalisierung und einer vernetzten Welt.

Das Sortieren von Menschen in Kategorien kostet die Welt unglaublich viel Geld. Wir verschwenden Zeit und Geld, um herauszufinden, wer sich in Bewegung setzen darf und wer nicht. Die gleichen Ressourcen in Ausbildung, humane und funktionierende Urbanisierung und letztlich in einen Zugang zu globalen Ressourcen durch Vernetzung – Technologien, Know-how und Finanzen – für alle zu investieren, wäre eine Win-win-Situation für alle. 

VdZ: Sie sprechen von der „Kraft der Digitalisierung und einer vernetzten Welt“. Nicht nur Ihr Blick auf die Migrationsfrage ist davon geprägt, sondern auch Ihre Vorstellungen von einer innovativen Flüchtlingshilfe. Wie können Computer, Internet oder 3D-Drucker denn Menschen in Not helfen?

Kleinschmidt: Die unglaublichen Veränderungen, die durch Digitalisierung und Vernetzung möglich geworden sind, erleben wir jeden Tag in vielen afrikanischen Ländern. Millionen haben Zugang zu sicherem Geldverkehr und brauchen keine Bank mehr. Von Algorithmen unterstützte Telemedizin erlaubt abgelegenen Gemeinschaften in Ruanda zeitgleiche und günstige Gesundheitsversorgung, da notwendige Medikamente mit Dronen geliefert werden. Wir werden gerade in Afrika eine unglaubliche Entwicklung durch digitale Vernetzung erleben, die den asiatischen „Tigern“ ebenbürtig sein wird.  Das heißt auch, dass die düstere Prognose, die durch primitive Politiker gestellt wird, dass „Afrika uns erobern wird“, nicht eintreffen wird. Im Gegenteil, es ist der Kontinent der Zukunft. 

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Wir werden gerade in Afrika eine unglaubliche Entwicklung durch digitale Vernetzung erleben

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Modernität spielt eine wichtige Rolle

Ich habe auch immer wieder darauf hingewiesen, dass in den doch sehr komplexen Beweggründen, die Menschen in die Städte und die Emigration treiben, auch das Element der „Modernität“ eine wichtige Rolle spielt. Junge Menschen wollen die Welt, die sie im Netz erfahren, auch leben können. Deswegen reicht es auch nicht aus, armen Menschen, Flüchtenden und jungen Menschen überhaupt nur Berufs- und Lebensperspektiven anzubieten, die diesen Zugang nicht erlauben. Es reicht nicht mehr, nur Maurer-, Tischler- oder Nähkurse anzubieten.

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Eigentlich erübrigt sich die gegenwärtige Hilfsindustrie.

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Es braucht Coding Schulen und Bootcamps

Um diese Welt zu erschließen, braucht es Coding-Schulen und Bootcamps oder sogenannte Fablabs – oder Makerspaces –, in denen Geräte vom 3D-Drucker bis zur Holzfräse zur Verfügung stehen, oder auch Startup-Zentren, Coaching- und Co-Working-Büros. Alle Projekte, die ich kenne und auch unterstütze, sind sehr erfolgreich und helfen jungen Menschen, Zugang zu dieser digitalisierten “modernen” Welt zu schaffen. Und hier gibt es hervorragende Beispiele vom Irak über Jordanien nach Kenia, Liberia und Mauretanien – oder natürlich in vielen asiatischen Ländern.

Ein globales vernetztes Eco-System aufbauen

Bezogen auf die Nothilfe ist vor allem biometrische Identität verbunden mit Mobil-Technologien eine Revolution, da sich Hilfsgüterverteilungen eigentlich nach wenigen Tagen erübrigen sollten. Finanzielle Unterstützung und Versicherungen können durch smarte Technologien mithilfe von Blockchain sicher übertragen werden. Durch intelligente Vernetzung, Online-Coaching und intelligenten Zugang zu den globalen Ressourcen des Know-hows, Finanzen und Technologien, die wir kollektiv schon besitzen, erübrigt sich eigentlich die gegenwärtige Hilfsindustrie, die mit ineffizienten und teuren Systemen nur wenig erreicht. Es geht darum, ein globales vernetztes Eco-System aufzubauen, in dem Challenges und Lösungen durch Co-Creation und Crowdsourcing gefunden werden.

VdZ: Als „Bürgermeister von Zaatari“ haben Sie auf die Eigeninitiative der Flüchtlinge gesetzt und wollten etwa Lebensmittelausgabestellen durch privat geführte Geschäfte ersetzen. Während private Initiativen klassischer Weise als gemeinnützige Vereine organisiert sind, haben Sie ein Startup gegründet, um Hilfsprojekte mit der Wirtschaft zu vernetzen. Welche Vision steckt dahinter?

Kleinschmidt: Es ist essentiell zu verstehen, dass die enorme Ungleichheit in der Welt nicht durch karitative Strukturen und Almosen korrigiert werden kann. Um die gesetzten Nachhaltigkeitsziele zu erreichen, fehlen pro Jahr geschätzte zwei Billionen Dollar. Dem stehen weltweit lächerlich knappe zweihundert Milliarden Dollar an Entwicklungskooperation und humanitären Mitteln pro Jahr gegenüber – das heißt, alle Spenden und Steuerzahlermittel zusammengerechnet! Man müsste Magie anwenden, um mit diesen Mitteln etwa 120 Millionen Menschen, die jedes Jahr humanitäre Hilfe benötigen, oder den vier Milliarden, die in Armut oder nahe der Armutsgrenze leben, zu „helfen“ und eine wirkliche Verbesserung ihrer Situation zu erreichen. Eine Milliarde Menschen sind mobil, leben in sehr prekären Bedingungen oder sind Flüchtlinge. Es geht letztlich um Arbeitsplätze, leistbaren Wohnbau und Zugang zu Finanzierung und Versicherungsprodukten.

Menschen zu "Prosumern" machen

Die wirkliche Aufgabe und Challenge unseres Zeitalters ist es, die gewärtige gewaltige schon erwähnte Transformation der Demographie und Lebensräume zu begleiten, und das kann nur geschehen, wenn die Wirtschaft und das Kapital begreifen, dass es in uns aller Interesse ist, dass alle Menschen zu Prosumers – also Produzenten und Konsumenten – werden können, dass sie Zugang zu den Errungenschaften unseres Zeitalters haben. Es braucht eine intelligente Verbindung dieser unglaublichen Mengen an Kapital, an Know-how, aber auch politischen Entscheidungen, um wirkliche Veränderungen zu erreichen. In Asien sind Millionen aus der Armut ins 21. Jahrhundert katapultiert worden und das war nur möglich durch Investition, Innovation, Urbanisierung und dadurch besseren und effizienteren Zugang zu Service und Arbeit. Das birgt natürlich auch gewaltige Gefahren, aber auch hier wird gelernt. Ich hoffe, dass wir aus den dunklen Zeiten eines Raubbaukapitalismus herauskommen und uns auf das gemeinsame nachhaltige Überleben konzentrieren. 

Kombination von Investition, besserer Verwaltung und Lokalregierung

Mit einem Netzwerk von Experten haben wir das Modell der nachhaltigen Entwicklungszonen (Sustainable Development Zones, SDZ) entwickelt, in dem wir vorschlagen, dass durch eine Kombination von Investition, besserer Verwaltung und Lokalregierung Millionen Menschen, die auf der Flucht und in einer Verzweiflungsmigration durch Klimawandel und Konflikte sind, menschengerecht leben und arbeiten können. Aber das braucht die Politik, Investition, aber sicher keine Almosen. Es braucht mutige Entscheidungen, die dazu führen werden, dass sich auch hier die Interessen aller Seiten wiederfinden – indem das Wohlbefinden der Menschen in den Mittelpunkt gestellt, aber durch Wirtschaftlichkeit vorangetrieben wird.

Kilian Kleinschmidt stellte dem heutigen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier vor Ort sein Konzept für Zaatari vor.
© Kilian Kleinschmidt
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Es braucht eine intelligente Verbindung dieser unglaublichen Mengen an Kapital, an Know-how, aber auch politischen Entscheidungen, um wirkliche Veränderungen zu erreichen

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Ich habe nach der anfänglichen Gründung eines Vereins begriffen, dass es unehrlich ist zu behaupten, dass diese Aktivitäten keine Wirtschaftlichkeit und Profite erzielen. Um mit Unternehmen inter pares arbeiten zu können, habe ich 2016 eine GmbH gegründet und sehr viele Fehler gemacht, die aus meiner humanitären Logik und Arbeitsweise entstanden. Trotz aller „Überlebensschwierigkeiten“ stehe ich zu dieser Entscheidung, um eine moderne, dem 21. Jahrhundert angepasste Unternehmensstruktur weiterzuentwickeln, die sich Impact-getriebene Vernetzung als Hauptziel gesetzt hat.

VdZ: Was tun Sie im Rahmen Ihres Unternehmens genau? Welche Aufgaben haben Sie sich gestellt? Können Sie konkrete Beispiele nennen?

Kleinschmidt: IPA hat sich als Ziel gesetzt, globale Vernetzung und Partnerschaften sicherzustellen. Ich glaube fest daran, dass durch eine bessere Verbindung zwischen „Demand und Supply“, die Co-Creation vieler Köpfe und eine effektivere Nutzung der globalen Ressourcen die meisten unserer globalen Probleme gelöst werden können – und das gilt vor allem für benachteiligte Regionen und Gemeinschaften dieser Welt.

Oft fehlen technische Lösungsansätze

Oft fehlt es zum Beispiel einem Bürgermeister an technischen Lösungsansätzen oder Betreiber- und Finanzierungsmodellen für die Probleme seiner Gemeinde: Welche Abfallverarbeitung passt bei uns am besten oder welcher Typ Kläranlage ist der beste? Wo finde ich die Partner, um zu planen, zu investieren und eine Anlage zu betreiben? Ob das eine Gemeinde in Griechenland, dem Irak oder dem Kongo ist, entscheidet dann oft mit, welche Lösung oder Partnerschaft am besten passt. Und so ähnlich ist das für Unternehmer, die nach Investoren, Partnern und Produkten oder auch Märkten suchen. Universitäten suchen nach Forschungspartnern und Hilfsorganisationen nach Finanzierungen oder Technologien. 

Kilian Kleinschmidt präsentiert seine Ideen bei Veranstaltungen wie der TEDx Hamburg, dem Europäischen Forum Alpbach oder der „Cities of Tomorrow“-Konferenz.
© Kilian Kleinschmidt
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Es ist die Kraft des Schwarms, der „Crowd“, und eben zu wissen, wer was wo hat und wer was wo braucht

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Digitale Vernetzung, intelligente Algorithmen und Partnerschaften

Es ist die Kraft des Schwarms, der „Crowd“, und eben zu wissen, wer was wo hat und wer was wo braucht, was den meisten Menschen und Gemeinschaften nicht zugänglich ist. So werden Kluften zwischen denjenigen, die sich in dieser vernetzten Welt zurechtfinden und wissen, was sie wo finden, und den anderen, den „Have-Nots“, immer größer.

Dazu haben wir das Konzept des SWITXBOARDs entwickelt, das einerseits durch digitale Vernetzung und intelligente Algorithmen und Filter ein Matching erleichtert und das andererseits die professionelle Begleitung von Partnerschaften sicherstellt. Das heißt, SWITXBOARD weiß, was wo zu finden ist, und sollte auch die Suche nach komplexen multidimensionalen Lösungen ermöglichen.

Design-Thinking, Co-Creation und Labs

Ein Teil dieser Begleitung kann von SWITXBOARD selber geleistet werden – aber es geht hauptsächlich darum, den Ball weiterzuspielen, und zwar an kompetente Beratungspartner weltweit. SWITXBOARD hilft dabei, für Zielregionen, Gemeinden, Forschung oder Unternehmen die richtigen Partner zu finden, die durch Methoden des Design-Thinkings, der Co-Creation und durch Labs innovative Lösungen entwickeln. Für dieses SWITXBOARD suchen wir nun sehr dringend Investoren. Der Bedarf an einem solchen Tool ist enorm und das Potential auch aus einer Investorenperspektive sehr weitreichend.

Krisenmanagement, Teamentwicklung und Verhandlung

Durch den Zugriff auf globale vernetzte Expertise kann IPA Know-how und Umsetzungskapazitäten innerhalb kürzester Zeit mobilisieren. So berät IPA als Beratungsfirma derzeit in verschiedenen Konstellationen Regierungen, Unternehmen und Organisationen. Viele der Themen sind natürlich im Bereich der Migration, Flucht, humanitärer Hilfe oder nachhaltiger Entwicklungszusammenarbeit angesiedelt. Es geht aber auch oft um andere Themen wie Krisenmanagement, Teamentwicklung und Verhandlung. Viele Unternehmen suchen auch nur nach Zugängen zu neuen Märkten und Geschäftsvermittlung. Wir entwickeln auch als vernetzter Thinktank neue Konzepte wie zum Beispiel die schon erwähnten nachhaltigen Entwicklungszonen (SDZ) oder haben das Modell eines „Partnerschafts- und Business Accelerators“ für fragile Regionen entwickelt, was im Grunde ein geographisch spezifisches SWITXBOARD ist.

In diesem Kontext arbeiten wir seit einiger Zeit an einem Projekt für und mit Libyen, in dem beides umgesetzt werden soll und das mit Hilfe von zunächst libyschen Finanzierungen im nächsten Jahr beginnen soll. Hier sind libysche Gemeinden und Unternehmer, die eine Stabilisierung wünschen, durchaus Finanzierungskraft haben, aber nach neuen Ideen und Technologien suchen, das Ziel. Wir bauen dieses Projekt auf dem Erfolg der „Nicosia Initiative“ auf, die zehn libyschen Städten mit direkten technischen Partnerschaften mit europäischen Gemeinden hilft. Wir werden auch noch dieses Jahr in Äthiopien im Auftrag der UNO und in Zusammenarbeit mit den äthiopischen Behörden die Möglichkeiten einer zukünftigen Umsetzung des SDZ-Konzepts im Kontext von Urbanisierung, Vertreibung und Industrialisierung eruieren. 

VdZ: Sie sind ein Visionär. Um nochmal den Begriff der Fluchtursachenbekämpfung aufzugreifen: Dabei denkt man ja üblicherweise nicht in erster Linie an Vernetzung und Digitalisierung, Algorithmen und Blockchain-Technologie, Fablabs und Startup-Zentren. Wie begegnen Ihnen hierzulande Menschen, vor allem Entscheider, wenn Sie ihnen solche Ansätze vorstellen? Finden Sie die offenen Türen, die Sie sich wünschen?

Mehr als 25 Jahre lang hat Kilian Kleinschmidt als Mitarbeiter des UNHCR Hilfsprojekte in Afrika, Südeuropa und Asien durchgeführt.
© Sascha Montag (http://saschamontag.de)

Kleinschmidt: Ich möchte hier zunächst einmal mit dem Irrglauben aufräumen, dass man irgendjemanden davon abhalten wird zu emigrieren, weil man einen Brunnen bohrt oder zwei Schafe schenkt. Ganze Regionen werden derzeit unbewohnbar, weil sie entweder zu viel Regen und Überschwemmungen erfahren oder die Dürre alle drei Jahre kommt, anstatt aller zehn Jahre. Küstengebiete werden überspült und der Boden versalzt. Natürlich kann man Dämme bauen, Schutzmauern und muss man versuchen, durch massive Aufforstung der Verwüstung und Verkarstung entgegenzuwirken. Aber dieses Denken, dass ein armer Mensch ja mit wenig, gerade dem, was man zum Überleben braucht, zufrieden sein muss, zeugt von einer unglaublichen Arroganz, die wir in unseren Wohlstandsgesellschaften entwickelt haben, unsere eigene Armuts-, Emigrations- und Fluchtgeschichte verleugnend …

Lokale Produktionskapazitäten können sich nicht entwickeln

Die wahre Fluchtursache ist unser Reichtum und unser Lebensstil. Wir spielen auch heute noch „SimCity“, bringen Rohstoffe aus fernen Ländern, verarbeiten sie, verkaufen sie teuer zurück und liefern dann neben unseren landwirtschaftlichen Überproduktionen auch unseren Müll, den E-Schrott und alles andere inklusive unserer Altkleider dazu. Damit stellen wir sicher, dass sich lokale Produktionskapazitäten nicht entwickeln können. Um hier sicherzustellen, dass unsere „Partner“ sich nicht gegen unser System stellen, versorgen wir Staatshaushalte und natürlich einige Vorzeigeprojekte mit Finanzierungen durch unsere Entwicklungszusammenarbeit. Fundamental hat sich das seit den offiziellen Zeiten der Kolonialisierung nicht geändert.

Migration fördern, statt verhindern

Den notwenigen Narrativwechsel auch in Hinblick auf den Fakt, dass Migration gefördert werden muss, anstatt sie zu verhindern, wagt sich natürlich kaum ein Politiker, in der Öffentlichkeit zu sagen. Je mehr Menschen legal, mit der richtigen Ausbildung und den richtigen Papieren ausgestattet, sich frei dorthin bewegen können, wo sie es möchten oder wo es auch Opportunitäten gibt, umso besser. Wer hätte noch vor 150 Jahren gedacht, dass Deutsche einmal dort leben und arbeiten können, wo sie wollen? Und genauso sollte das auch ein Senegalese oder Nepalese tun können. Selbst wenn dieses Ziel vielleicht noch weit weg liegt, ist es essentiell, dass wir es uns stellen!

Trotz aller augenscheinlich sehr gegensätzlichen Maßnahmen, Stellungnahmen und einer sehr restriktiven nationalistisch geprägten Politik, die im Augenblick sehr viel Leiden und Ungerechtigkeit erzeugt, bin ich sehr positiv. Wir werden und müssen aus diesen Fehlern lernen, so wie ein Kind durch das Fallen lernt.  

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Dass eine moderne digitalisierte Welt für junge Menschen in allen Ländern neue Chancen eröffnet, wird von mehr und mehr Menschen verstanden

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Ich habe den Eindruck, dass schon jetzt ein Umdenken geschieht. Neue Konzepte werden offener diskutiert und in der Ratlosigkeit entstehen Opportunitäten. Dass eine moderne digitalisierte Welt für junge Menschen in allen Ländern neue Chancen eröffnet, wird von mehr und mehr Menschen verstanden. Dass es global gesehen überlebenswichtig ist, funktionierende urbane Zentren zu entwickeln, und dass nachhaltige Entwicklungszonen (SDZ) dazu beitragen können, wird immer mehr verstanden. Auch der Afrika-Beauftragte der Bundesregierung, Günter Nooke, unterstützt diese Idee. Zu verstehen, dass unsere Städte aus Flüchtlingslagern entstanden sind – die immer Orte des Schutzes und der Perspektiven um die Kirche, den Tempel, die Moschee oder die Burg herum waren – und historisch schon immer ein Zufluchtsort gewesen sind, hilft uns, nach vorne zu denken. Flüchtlingslager als Städte der Zukunft zu sehen und wie Städteplaner, Designer und Architekten beitragen können, wird nun in vielen Universitäten gelehrt. Ich glaube, mein Netzwerk hat zu dem allen sehr viel beigetragen.

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Trotz aller augenscheinlich sehr gegensätzlichen Maßnahmen, Stellungnahmen und einer sehr restriktiven nationalistisch geprägten Politik, die im Augenblick sehr viel Leiden und Ungerechtigkeit erzeugt, bin ich sehr positiv.

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Es ist essentiell, das Opferdenken mit der daran angeknüpften Almosenlogik zu beenden. Egal aus welchem politischen Spektrum wir kommen, es geht um uns alle – es geht um uns Menschen, und ob wir es wollen oder nicht, es kann nur funktionieren und wir können nur überleben, wenn wir uns als Gemeinschaft von über sieben Milliarden verstehen.


Ein Appell

Deswegen möchte ich zum Abschluss einen Appell an uns alle richten – vor allem an alle diejenigen, die sich im Augenblick verraten fühlen, die sich nicht mehr zurecht finden in einer vernetzten globalisierten Welt, in der wir uns alle so viel näher gerückt sind, auch die mit anderen Hautfarben und Religionen. Ich möchte mich an diejenigen richten, die durch Hass und Hetze gegen das Andere, die Anderen letztendlich nur sich selber schaden werden. Das letzte Mal, dass wir – Deutschland – dieser Logik gefolgt sind, hat es nur Verlierer gegeben. Es ist jetzt die Zeit, gemeinsam darüber nachzudenken, wie wir in der Zukunft leben werden und möchten. Es ist an der Zeit, gemeinsame Visionen und Strategien zu entwickeln. Und das braucht Mut, Kraft und vor allem Leadership!