„Der Staat muss beweisen, dass es keine rechtsfreien Räume gibt“
5 Fragen an Staatssekretär Christian Seel
VdZ: Clans und Parallelgesellschaften, Milieu-, Organisierte Kriminalität, No-Go-Areas – hat sich die Problematik verschärft oder wurde nur der Blick für schon länger bestehende Probleme geschärft?
Seel: Diese Fragestellung muss aus meiner Sicht differenziert betrachtet werden. Sicherlich ist es so, dass sich Clankriminalität nicht innerhalb eines kurzen Zeitraums etablieren kann. Es ist ein recht langer Prozess, in dem sich feste kriminelle Strukturen in den Familien entwickeln – und ich möchte an dieser Stelle betonen, dass es sich nicht per se um kriminelle Familien handelt, sondern stets um einzelne kriminelle Mitglieder einer Familie. Mitunter zieht sich diese Entwicklung schon über Generationen. Die Problematik besteht somit bereits länger und ist nicht als neuartiges Phänomen einzustufen. Und hier muss natürlich auch die Frage nach den Gründen für diese Entwicklungen erlaubt sein. Ziel unsererseits ist es nicht, Menschen aufgrund ihres Namens unter Generalverdacht zu stellen, aber Ziel muss es uns jederzeit sein, durch gezielte Lageanalysen solche Vorgänge zu verstehen und auch entgegen zu wirken.
Hat der Staat Fehler bei der Integration gemacht? Wurden Rechtsverstöße – vielleicht auch aufgrund falsch verstandener Toleranz – zu lange hingenommen?
Seel: Die Situation scheint sich in den letzten Jahren weiter verschärft zu haben. Ob dieser Eindruck nur durch die verstärkte gesellschaftliche, politische und mediale Aufmerksamkeit, mit einigen teilweise aufsehenerregenden Fällen, oder gar mit der teils öffentlichkeitswirksamen Selbstdarstellung einiger krimineller Clanmitglieder zusammenhängt, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden. Aus diesen Gründen wurde die Clankriminalität erstmals im Bundeslagebild „Organisierte Kriminalität 2018“ einer genaueren Betrachtung unterzogen. Grundvoraussetzung war es im ersten Schritt, bundeseinheitliche Zuordnungskriterien und Indikatoren zur Identifizierung sogenannter Clankriminalität zu definieren. Hierzu wurden folgende vier mögliche Indikatoren formuliert:
- Eine starke Ausrichtung auf die zumeist patriarchalisch-hierarchisch geprägte Familienstruktur,
- eine mangelnde Integrationsbereitschaft mit Aspekten einer räumlichen Konzentration,
- das Provozieren von Eskalationen auch bei nichtigen Anlässen oder geringfügigen Rechtsverstößen,
- die Ausnutzung gruppenimmanenter Mobilisierungs- und Bedrohungspotenziale.
Clankriminalität wird somit als "Straftaten durch Angehörige ethnisch abgeschotteter Subkulturen" bezeichnet. Auf Grundlage dieser vier genannten Identifizierungsmerkmale ist es uns nun möglich, einheitlich kriminelle Mitglieder ethnisch abgeschotteter Subkulturen einzuordnen.
Nur so können wir zukünftig Entwicklungen anhand der Daten aus den Lagebildern genauer und statistisch belegbar beobachten. Wir brauchen evidente und für uns verständliche Zahlen, um gezielt Gegenmaßnahmen einleiten zu können. Bund und Länder haben darüber hinaus die „Bund-Länder-Initiative zur Bekämpfung der Clankriminalität“ (BLICK) im letzten Jahr eingerichtet. Dadurch werden alle tangierten Stellen in die Lage versetzt, wirksame Bekämpfungsstrategien zu entwickeln und die Erfolge auch messbar zu machen.
VdZ: Die Auswirkungen von Clankriminalität sind vielfältig. Wo sehen Sie die größten Herausforderungen?
Seel: Die Herausforderungen bei der Bekämpfung sind in der Tat vielfältig. Es hat sich gezeigt und durch die Ermittlungen in verschiedenen Bundesländern auch gerichtsfest beweisen lassen, dass die kriminellen Betätigungsformen der Clanmitglieder sehr vielfältig sind. Wir stellen neben den „klassischen“ Delikten der „Organisierten Kriminalität“, wie insbesondere Rauschgiftkriminalität oder Delikten im Rotlichtmilieu, auch Straftaten im Bereich der Eigentums-, Wirtschafts- oder Gewaltkriminalität fest. Allerdings ist die Datenbasis zum Phänomen-Bereich der Clankriminalität derzeit noch relativ dünn. Zur Verdeutlichung: Aktuell erfassen wir im Lagebild „Organisierte Kriminalität“ ausschließlich Straftaten, die nach einer bundeseinheitlichen Definition unter „Organisierte Kriminalität“ fallen. Die Hürden hierfür sind dabei jedoch sehr hoch. Auch die Straftaten krimineller Clanmitglieder werden nur dann erfasst, wenn sie die Kriterien für „Organisierte Kriminalität“ erfüllen. Daneben existiert natürlich ein großes Spektrum an Straftaten mit Bezügen zu Clankriminalität, die aber nicht diese Kriterien erfüllen. Diese Straftaten werden nicht bundeseinheitlich statistisch erfasst.
Des Weiteren ermöglichen die Familienstrukturen den Tätern ein hohes Maß an Abschottung, was polizeiliche Ermittlungen deutlich erschwert. Zum anderen ist im Zusammenhang mit kriminellen Mitgliedern von Clans oft zu beobachten, dass Eskalationen, auch bei nichtigen Anlässen oder geringfügigen Rechtsverstößen, provoziert werden und im Auftreten gegenüber den Repräsentanten des Rechtsstaats – sei es Mitarbeitern von Ordnungsämtern oder Polizisten – gruppenimmanente Mobilisierungs- und Bedrohungspotenziale genutzt werden. Der Staat wird oftmals auch unter rivalisierenden Clans als gemeinsamer Feind angesehen, sodass Straftaten zwischen diesen oftmals nicht zur Anzeige gebracht werden. Es wird vielmehr versucht, Konflikte untereinander nach einem eigenen Ordnungssystem zu regeln und damit dem staatlichen Einfluss zu entziehen. Bei Konflikten innerhalb der Familien wird sich hierbei teilweise auch sog. Friedensrichter bedient. Hier muss der Staat beweisen, dass es keine rechtsfreien Räume gibt.
Eine der größten Herausforderungen stellen die gefestigten kriminellen Strukturen innerhalb der Familienverbände dar. Es besteht die Gefahr, dass Kinder in Familien aufwachsen, in denen eine Vielzahl von Familienangehörigen ihren Lebensunterhalt mit kriminellen Machenschaften verdienen. Im schlimmsten Fall entsteht eine Subkultur, die den deutschen Rechtsstaat und die damit verbundene Werte- und Rechtsordnung ablehnt. Kinder könnten also in ein Umfeld geboren werden, das sowohl eine erfolgreiche Integration als auch eine Resozialisierung nach einer möglichen ersten Straffälligkeit erheblich erschwert.
Somit sind wirksame Präventionsmöglichkeiten des Staates eine zentrale Herausforderung. Repressive Gegenmaßnahmen sind leichter zu benennen, wohingegen eine erfolgreiche Vorsorge deutlich schwieriger zu konzipieren ist. Dies hat unterschiedliche Gründe. Oftmals haben jene Kinder und Jugendliche eine fehlerhafte Wertesozialisation, ein fragliches demokratisches Rechtsverständnis oder die bereits genannten homogenen Familienstrukturen haben einen negativen Einfluss.
Weiterhin bedarf es einem Gesamtkonzept beziehungsweise einer Gesamtstrategie. Wir brauchen ineinandergreifende und miteinander kooperierende Institutionen, um effektiv Handeln zu können. Hierzu benötigen wir eine Abstimmung mit allen relevanten Behörden. wie Finanzämter, Gewerbeaufsicht, Ordnungsämter, Jugendämter, Schulen, Ausländerbehörden, Verfassungsschutz, Polizei, Staatsanwaltschaft, Sozialleistungsträger und auch der Zoll.
Das sind jedoch alles Punkte, die die „Bund-Länder-Initiative zur Bekämpfung der Clankriminalität“ betrachtet und adäquate Lösungsansätze zur Bewältigung der vielfältigen Herausforderungen erarbeiten wird. Wir sind auf dem richtigen Weg, doch man muss der Vollständigkeit halber sagen, dass noch einiges vor uns liegt.
VdZ: Bundesinnenminister Seehofer hat im vergangenen Jahr einen 7-Punkte-Plan veröffentlicht, in dem die Bekämpfung der Clan-Kriminalität an erster Stelle stand. Hat sich seitdem etwas geändert?
Seel: Insbesondere die Befassung durch die zuvor genannte Initiative sowie die Ausweisung von Clankriminalität im Bundeslagebild „Organisierte Kriminalität“ sind zwei Aspekte, die zeigen, dass die Clankriminalität und die damit einhergehenden Folgen für die Gesellschaft deutlich in den Fokus gerückt sind. Die BLICK hat schon erste Ergebnisse ihrer Arbeit vorgestellt und vor allem der Austausch von Best-Practice-Ansätzen zwischen den Ländern ist dabei erfolgsversprechend.
VdZ: Das Bundeskriminalamt hat Seehofer zufolge mit den Landeskriminalämtern Konzepte ausgearbeitet, um die Clan-Kriminalität zurückzudrängen. Wie sieht das ganz konkret im Saarland aus?
Seel: Im Saarland haben sich nach derzeitigem Stand glücklicherweise noch keine gefestigten Clanstrukturen entwickelt oder etabliert. Auch No-Go-Areas gibt es nicht. Wir beobachten jedoch die Lage sehr genau, um auch schnell und flexibel auf besondere Entwicklungen reagieren zu können. Darüber hinaus werden wir von den Erfahrungen anderer Bundesländer und den Ergebnissen der zentralen Befassung in der „Bund-Länder-Initiative“, insbesondere im Hinblick auf präventive Aspekte, profitieren können. Ziel im Saarland muss es sein, die Entwicklung von Clankriminalität im Keim zu ersticken. Dies kann nur mit einer „Null-Toleranz-Strategie“ erreicht werden. Einen sehr aussichtsreichen Ansatz stellt dabei auch das Instrument der Vermögensabschöpfung dar, welches seit 2017 durch eine Gesetzesanpassung von den Bundesländern im Kampf gegen die Kriminalität und natürlich auch die „Organisierte Kriminalität“ genutzt wird. Das „Gesetz zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung“, das dem Motto „Straftaten dürfen sich nicht lohnen“ besondere Bedeutung verleiht, kommt in den Ländern verstärkt zur Anwendung und führt zu weiteren Erfolgen im Kampf gegen Straftäter und kriminelle Clans. Als Beispiel hierfür möchte ich auf die vorläufige Beschlagnahmung von Immobilien eines arabischstämmigen Clans in Berlin verweisen.
Weiterhin führen wir auch im Saarland regelmäßig Verbundeinsätze von Polizei, Ordnungsämtern und auch mit Unterstützung der Ausländerbehörde durch. Mit diesen Einsätzen wollen wir zeigen, dass es erst gar keine Rückzugsorte für Clans gibt.
VdZ: Was können oder müssen die Kommunen vor Ort leisten?
Seel: Die Möglichkeiten der Kommunen sowohl im präventiven als auch repressiven Bereich sind vielfältig. Es geht vor allem darum, den kriminellen Mitgliedern der Clans zu zeigen, dass der Rechtsstaat sich nicht zurückdrängen lässt und weiterhin wehrhaft ist. Schon kleinste Fehlverhalten müssen geahndet werden. Sei es im Zusammenhang mit der Beantragung von Sozialleistungen oder bei der Ahndung von Verkehrsverstößen. Aber insbesondere die Arbeit der Jugendämter, die zum Beispiel im Rahmen der Jugendgerichtshilfe Kontakt mit (erstmals) straffällig gewordenen minderjährigen Clanmitgliedern haben, kann sehr wertvoll sein. Im Rahmen der Befassung von Fachleuten wird in diesem Zusammenhang auch über die Thematik Kindeswohlgefährdung durch das Aufwachsen in kriminellen/kriminogenen Familienstrukturen diskutiert.
Die Rolle der Kommunen betrachtend, ist meines Erachtens jedoch vor allem der Austausch aller relevanten Informationen zwischen allen tangierten Behörden entscheidend. Hierbei müssen alle rechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft werden, um auf einem gemeinsamen Informationsstand zu sein. Sollte sich zeigen, dass die bestehenden Regelungen einen Austausch der beteiligten Stellen in bestimmten Fällen verhindern, müssen wir auch über konkrete Gesetzesanpassungen sprechen.
In Abstimmung zwischen Kommunaler, Landes- und Bundesebene müssen somit geeignete Werkzeuge entwickelt und weitergegeben werden, die zum erfolgreichen Schutz vor Clankriminalität eingesetzt werden können.