Knöllchen
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Deutschland hat zu wenig Arbeitskräfte?

Arbeitskräftemangel – oder doch nur „Workforce crowding out“ durch eine überbordende Verwaltung?

In den letzten Monaten seit dem wahrgenommenen Pandemieende wird allerorts beklagt, dass es an Personal mangelt. Auch wenn die Therapien, welche etwa Zeitungen empfehlen, durchaus unterschiedlich sind, so dürfte es ein Faktum sein, dass es gerade an Personal mangelt.

Auch die öffentliche Verwaltung beklagt den Mangel an Arbeitskräften. So ist es seit Jahren breiter Konsens, dass die Pensionierungswelle im öffentlichen Dienst Lücken hinterlässt, sowohl qualitativer als auch quantitativer Natur.

Ist die Verwaltung zu groß?

Auf den ersten Blick erscheint die Verwaltung in Deutschland nicht zu groß.

Problematischer wird der zweite Blick, wenn man auch die formell privaten Arbeitsplätze miteinbezieht, die gemeinnützige Dienstleistungen erbringen, also beispielsweise Stadtwerke, gesetzliche Krankenversicherungen und dergleichen. Dann hat Deutschland auf einmal 2,3-mal so viele öffentlich Bedienstete pro tausend Einwohner und deutlich mehr als Griechenland oder Italien, die diesbezüglich wohl unberechtigt einen schlechten Ruf haben.

Beispiel Kommunale Verkehrsüberwachung München

Das Kreisverwaltungsreferat der Landeshauptstadt München beschäftigt laut Haushaltsplan 2021 in der Kommunalen Verkehrsüberwachung 79,2 Beamte und 279,7 sonstige Arbeitnehmer: in Summe 358,9 Personen. Sieht man von den Personalkosten hierfür ab, die sich vermutlich um die 15 Millionen Euro bewegen, besteht die Arbeit dieser Personen zu einem großen Teil in der Überwachung des ruhenden Verkehrs, konkret der Bewohnerparkbereiche. Dort parken KFZs mit Anwohnerparkausweisen. Das sind grün-weiße Papierdokumente im Format DIN A6, die in die vordere Windschutzscheibe gelegt werden müssen.

Die kommunalen Verkehrsüberwacher:

1. Prüfen von 9 Uhr bis 23 Uhr, ob ein solcher Ausweis sichtbar in der Windschutzscheibe liegt.

2. Vergleichen, ob

a. der Bereich auf dem Anwohnerparkausweis zutrifft.

b. das Kennzeichen des Kfz mit dem Kennzeichen auf dem Anwohnerparkausweis                        übereinstimmt.

c. der Anwohnerparkausweis für den jeweiligen Tag gültig ist.

3. Und stellen gegebenenfalls das berühmte „Knöllchen“ aus.

 

Dieser Vorgang, den wir mittlerweile alle von Parkhäusern, Supermärkten und Flughafenparkplätzen kennen, ist mit Kameras und Kennzeichenerfassung vollständig automatisierbar, inklusive des Versands der „Knöllchen“. Eine Metropole wie London beweist seit mittlerweile 2003, dass es möglich ist, mit nur 197 Kameras eine vergleichsweise sehr große Parkzone zu überwachen. Auch Drohnen, umherfahrende kleine Roboter mit Kamera oder andere Lösungen könnten diese Problematik ohne Personalkosten lösen. Eine entsprechende Kamera kostet im Versandhandel für „Otto Normalverbraucher“ circa 1.365 Euro. Die Stadt München würde bei einer entsprechenden EU-weiten Ausschreibung von zum Beispiel tausend Kameras auf einige hundert Euro Stückpreis kommen. Das ist ein Bruchteil der jährlichen Personalkosten der Kommunalen Verkehrsüberwachung.

Beispiel Winterbach

Winterbach ist eine Gemeinde im Rems-Murr-Kreis in Baden-Württemberg und hatte zum 30.09.2021 7.656 Einwohner. Sie ist eine Pilotkommune der Digitalisierung, verfügt aber lediglich über sechs Online-Bürgerdienste. Neben anderen Verwaltungsleistungen verfügt die Gemeinde über ein eigenes Standesamt mit drei möglichen Trausälen. Das Standesamt beschäftigt zwei von insgesamt 36 Gemeindebediensteten, der Umfang ist allerdings nicht transparent. Geburtsurkunden, Sterbeurkunden und Heiratsurkunden sind etwas, was man üblicherweise jeweils einmal im Leben benötigt. Da üblicherweise zwei Menschen einander heiraten, halbiert sich hier die Fallzahl. Deshalb ist es in anderen Ländern der Europäischen Union normal, dass Standesämter größere Standesamtsbezirke haben, analog den Zweckverbänden in Deutschland. Dass eine Gemeinde von ein paar tausend Einwohnern ein eigenes Standesamt hat, ist beispielsweise in Österreich oder in der Schweiz nicht vorstellbar. Ebenso wenig die Ausstellung von Reisepässen und Personalausweisen durch eine kleine Gemeinde; dort stellen diese Dokumente die Bezirkshauptmannschaften beziehungsweise die kantonale Passstelle aus, von denen es deutlich weniger gibt als Gemeinden. Den Österreichern und Schweizern erscheint es zumutbar, alle zehn Jahre – so lange beträgt die Gültigkeit der Pässe beziehungsweise Personalausweise – eine Reise in die nächste Kreisstadt zu unternehmen.

Crowding out?

Es gibt in der wissenschaftlichen Literatur etliche Publikationen, die belegen, dass Anstellung im öffentlichen Dienst Arbeitskräfte vom privaten Sektor abzieht, verdrängt und sogar Reallöhne ansteigen lässt. Dieses Phänomen bezeichnet man in der Volkswirtschaftslehre als „crowding out“. Ursprünglich wurde es auf die Verdrängung privater Nachfrage durch öffentliche Nachfrage verwendet. Wenn wir in Deutschland gegenwärtig laut Statistischem Bundesamt circa fünf Millionen öffentlich Beschäftigte haben, so entspricht dies einem Neuntel der Erwerbstätigen. Geht man, wie an vielen Beispielen illustrierbar, davon aus, dass es etliche Tätigkeiten gibt, die vollständig digitalisierbar sind und ohne Personal in gleicher oder besserer Qualität ausgeführt werden können, so besteht hier ein großes Potenzial. Vor allem dann, wenn diese Arbeitskräfte dem privaten Sektor zur Verfügung stehen, weil der öffentliche Sektor seine Rationalisierungspotenziale durch Digitalisierung auch realisiert.

Wie Studentinnen und Studenten der Hochschule für öffentliche Verwaltung und Finanzen Ludwigsburg im Zuge einer Studie von OZG-Maßnahmenbündeln gezeigt haben, sind allein bei der Schülerbeförderung in Baden-Württemberg 230 Vollzeitstellen im Falle der Digitalisierung der entsprechenden Prozesse verzichtbar.

Fazit und Handlungsbedarf

Wie hoch das Gesamtpotenzial an Stelleneinsparungen im öffentlichen Dienst Deutschlands bei zeitgemäßer Digitalisierung ist, kann wohl nur vermutet werden – aber es bewegt sich wahrscheinlich im Bereich von zigtausenden oder hunderttausenden Stellen. Im deutschen Kreditgewerbe sank vergleichsweise die Zahl der Beschäftigten von 774.800 im Jahr 1991 auf 552.450 im Jahr 2020. Gleichzeitig sank die Zahl der Bankstellen von 66.764 in 1997 auf 25.779 in 2020. Dies ist wohl in hohem Ausmaß der Digitalisierung geschuldet, dank der ein Bankkunde seine Geschäfte nun online von zuhause oder unterwegs erledigen kann.

Setzt man statt „Bankstellen“ nun „Bürgerbüros“ und nimmt den Trend der Personalentwicklung analog an, so ist klar, welches Potenzial durch Digitalisierung zum Thema Arbeitskräfteverteilung vorhanden ist.

Es bleibt die Frage: Wohin kann, ja wird die Reise im öffentlichen Dienst gehen? Griechenland hat seine Reise bereits hinter sich – dort sank der Personalstand des öffentlichen Dienstes zwischen 2009 und 2013 von 942.625 auf nur noch 667.410 Köpfe oder um 29,2 Prozent, leider um danach wieder fast auf das alte Niveau anzusteigen. Haushaltssperren und akuter und erheblicher Einsparungsbedarf im öffentlichen Dienst könnten in Deutschland das Startsignal sein, ohne dass die Mitreisenden damit restlos einverstanden sein müssen. Noch ist diese Reise freiwillig.

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