Agentische Künstliche Intelligenz (agentische KI) bietet einen methodischen und technologischen Ansatz, um staatliches Handeln resilienter und effizienter zu gestalten. Sie ermöglicht es, Aufgaben mit kognitiver und operativer Eigenständigkeit durchzuführen und eröffnet so neue organisatorische Handlungsoptionen.
Warum gerade die Verwaltung besonders von agentischer KI profitiert, zeigt eine aktuelle Studie1 deutlich: Rund 62 % der Verwaltungsarbeit sind sprachbasiert – also Tätigkeiten wie Schreiben, Lesen oder Kommunizieren. Etwa 60 % dieser Aufgaben besitzen ein hohes Potenzial zur Automatisierung oder Unterstützung durch KI. Insgesamt könnten damit rund 40 % der Arbeitszeit effizienter gestaltet oder teilweise automatisiert werden. Der öffentliche Sektor zählt somit zu den Bereichen mit dem größten Veränderungspotenzial. Agentische KI kann helfen, Fachkräftemangel und Bürokratie zu reduzieren, Prozesse zu beschleunigen und die Qualität öffentlicher Dienstleistungen spürbar zu steigern.
Charakterisierung und Funktionsprinzip
Agentische KI beschreibt Systeme, die komplexe Aufgabenstellungen autonom strukturieren, priorisieren und mit technischen Werkzeugen umsetzen. Diese Systeme verarbeiten Informationen im Zyklus: Wahrnehmen, Planen, Handeln und Reflektieren.
Im Gegensatz zu klassischen Automatisierungssystemen, die festen Skripten folgen, oder Large Language Models (LLMs), die ausschließlich Informationen generieren, agiert agentische KI auf einer höheren Handlungsebene.
Während Retrieval-Augmented Generation (RAG) Wissensdatenbanken nutzt, aber keine Aufgabenplanung vornimmt, integriert agentische KI Planungslogik, Tool‑Orchestrierung und Feedbackschleifen in einem System.
Ein praxisnahes Beispiel aus dem Sozialversicherungsbereich verdeutlicht diese Stufe der Eigenständigkeit: Ein RAG‑System kann fehlende Dokumente in einem Kindergeldantrag identifizieren. Ein agentisches System hingegen prüft darüber hinaus automatisch die Unterlagen, gleicht sie mit Vorschriften ab, priorisiert die fehlenden Bestandteile und erstellt vorbereitetes Schriftgut für die Kommunikation mit Antragstellern. Damit wird ein Teilprozess vollständig automatisiert, während die rechtliche Endentscheidung weiterhin beim Menschen verbleibt.
Drei Stufen der operativen Einführung
Die Einführung agentischer Systeme in der Verwaltung erfolgt schrittweise. Die nachstehenden Reifegrade zeigen, an welchen Punkten der Technologieeinsatz sinnvoll und rechtlich handhabbar ist.
Stufe 1: Informationsaufbereitung
Der erste Mehrwert agentischer KI liegt in der intelligenten Informationsaufbereitung. Solche KI-Agenten analysieren eingehende Dokumente, extrahieren relevante Inhalte, erkennen Strukturen und erstellen standardisierte Zusammenfassungen. In der Eingangsbearbeitung können sie typische Aufgaben übernehmen wie das Scannen und Klassifizieren von Posteingängen, die Zuordnung von Anträgen, Formularen oder Belegen, sowie die automatische Weiterleitung an zuständige Fachbereiche.
Da die Verwaltung vielerorts noch stark papierbasiert arbeitet, spielt auch die optische Texterkennung (OCR) und die Attributierung postalischer Eingänge eine zentrale Rolle. Neben der reinen Informationsextraktion kann agentische KI auch Textcodes wie Diagnosecodes, Zolltarifnummern oder Mängelbeschreibungen automatisch vergeben.
So entsteht ein deutlicher Produktivitätsgewinn, ohne in Entscheidungsrechte oder hoheitliche Bewertungen einzugreifen. Diese Anwendungen gelten als risikoarm und hochwirksam – sie schaffen kurzfristig Entlastung, bis langfristig einheitliche digitale Standards und Schnittstellen etabliert sind und die Ursachen der Medienbrüche nachhaltig behoben werden. Zudem dienen sie als Erprobungsfelder für den späteren skalierbaren Einsatz agentischer KI in der gesamten Verwaltung.
Stufe 2: Teilautomatisierung und Prozessassistenz
Die Systeme übernehmen ergänzende Aufgaben in der Entscheidungsfindung. Ein praktisches Beispiel sind agentische Aktenassistenten. Im Sozialversicherungsbereich können Fallakten tausende Seiten umfassen. Ein interaktiver KI-Aktenassistent kann diese Dokumente automatisch sichten, inhaltlich erfassen und strukturieren. Er beantwortet gestellte Fragen, identifiziert relevante Textstellen, weist auf Unstimmigkeiten hin und fasst komplexe Fälle verständlich zusammen. Sogar Fragen zu optimalen Bearbeitungswegen oder zur kritischen Prüfung bereits behandelter Fälle kann er konsistent beantworten. Dadurch werden Bearbeitungszeiten erheblich verkürzt und Fehlerquoten gesenkt. Die Sachbearbeiter bleiben weiterhin für Entscheidungen verantwortlich, werden jedoch von zeitaufwendigen Routineaufgaben entlastet – was Qualität und Geschwindigkeit der Sozialverwaltung deutlich verbessert.
Gleichzeitig entstehen neue Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine, die eine klar definierte Governance-Struktur erfordern. Insbesondere muss abgegrenzt werden, ab welchem Automatisierungsgrad ein Vorschlag rechtlich als Entscheidungsvorbereitung gilt. Die Etablierung klarer Prüfroutinen und Verfahrensanweisungen ist auf dieser Stufe daher von zentraler Bedeutung.
Stufe 3: Vollautomatisierte Entscheidung
In klar definierten Standardfällen können Agenten automatisiert Entscheidungen treffen, etwa bei Antragstypen mit eindeutiger Daten- und Rechtslage oder geringen Interpretationsspielräumen. Diese Form der Automatisierung setzt eine belastbare Rechtsgrundlage, vollständige Nachvollziehbarkeit aller Abläufe und eine dokumentierte Qualitätssicherung voraus. Die Einführung hängt dabei maßgeblich von der rechtlichen Weiterentwicklung und der technischen Interoperabilität ab, die Vision reicht bis zur proaktiven Leistungsgewährung.
Auch im Bereich der Bürgerberatung kann agentische KI autonom agieren und die Mitarbeiter in den Beratungshotlines entlasten: Im Praxisbeispiel hilft sie Jugendlichen, sich im Dschungel von Berufen und Studiengängen zurechtzufinden. Die KI kann in kurzer Zeit große Informationsmengen durchsuchen, Interessen und Stärken abgleichen und passende Berufsfelder vorschlagen. Besonders nützlich ist die Vergleichsfunktion, die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Ausbildungen sichtbar macht. Zudem beantwortet die KI Fragen ähnlich wie ChatGPT und verweist direkt auf offizielle Quellen. Dadurch wird Beratung personalisierter, effizienter und zugänglicher – und entlastet gleichzeitig menschliche Berater, die mehr Zeit für individuelle Gespräche und komplexe Fälle gewinnen.
Technische und organisatorische Rahmenbedingungen
Infrastruktur
Für den Betrieb agentischer Systeme sind leistungsfähige Rechen- und Speicherressourcen erforderlich. On-Premise-Rechenzentren von Behörden verfügen meist nicht über GPU‑Kapazitäten oder standardisierte KI‑Betriebsschichten. Ein hybrides Betriebsmodell hat sich als praktikabler Lösungsansatz herausgestellt: Datenschutzsensible Prozesse werden in geschützten lokalen Umgebungen abgewickelt, während skalierbare Fachverfahren über zertifizierte Cloud‑Infrastrukturen betrieben werden.
Entscheidend ist die Planung einer stabilen und auditierbaren Betriebsarchitektur, die sowohl Sicherheitsanforderungen als auch Flexibilitätsansprüche gleichermaßen berücksichtigt. Datenflüsse und Logging‑Verfahren müssen von Anfang an auf Nachvollziehbarkeit und Revisionssicherheit ausgelegt sein.
Datenlage
Eine der größten Herausforderungen besteht in der Aufbereitung der Datenbasis. Ein erheblicher Anteil der Informationen liegt in nicht strukturierten Formaten vor. Für die maschinelle Verarbeitung ist eine Umstellung auf strukturierte, standardisierte und semantisch angereicherte Daten erforderlich.
Gesetzestexte, Verwaltungsvorschriften und Fallakten müssen dafür in maschinenlesbaren Formaten vorliegen. Parallel dazu ist die Erstellung von Qualitäts- und Pflegekonzepten erforderlich, um Konsistenz und Aktualität langfristig sicherzustellen. Aufgrund der föderalen Struktur ist eine Abstimmung über Länder‑ und Verwaltungsebenen hinweg notwendig, um eine einheitliche Datenarchitektur zu gewährleisten.
Schnittstellen und Integration
Die Integration agentischer Systeme in bestehende Fachverfahren stellt eine zentrale technische Aufgabe dar. Zahlreiche Altsysteme verfügen über proprietäre oder gar keine Programmierschnittstellen. Ein mehrstufiges Vorgehen hat sich bewährt:
In einer Anfangsphase können Agenten Ergebnisse parallel zu bestehenden Verfahren erzeugen, während die Übergabe der Daten manuell erfolgt. Anschließend kann eine halbautomatisierte Verbindung mittels Low‑Code‑Integrationsschichten aufgebaut werden. In einem späteren Modernisierungsschritt wird die native Anbindung über API‑Standards realisiert. Diese Vorgehensweise ermöglicht eine kontrollierte Einführung, ohne den laufenden Betrieb zu beeinträchtigen.
Governance und Verantwortlichkeit
Agentische Systeme verändern die organisatorische Rollenverteilung in der Verwaltung. Zuständigkeiten für Entwicklung, Betrieb, Kontrolle und Evaluierung müssen klar verankert sein. Zentrale oder hybride Kompetenzzentren bieten hierfür eine geeignete Struktur: Die Zentrale gewährleistet Infrastruktur, Sicherheitsstandards und übergreifende Steuerung, während Fachbereiche ihre anwendungsnahen Agenten in einem geregelten Rahmen entwickeln können.
Datenschutzrechtliche Fragestellungen sind ein integraler Bestandteil dieser Architektur. Die Bearbeitung personenbezogener Daten durch Agenten erfordert gesetzeskonforme Datenverarbeitungsprozesse, kontinuierliche Risikoanalysen und Schutzmechanismen wie Input‑Validierung und Zugriffsbeschränkungen.
Datenschutz- und IT‑Sicherheitsbeauftragte sollten von Beginn an als feste Projektpartner eingebunden werden.
Transformationsanforderungen und organisatorische Umsetzung
Die Einführung agentischer KI ist kein isoliertes IT‑Thema, sondern ein organisationsübergreifender Veränderungsprozess. Sie berührt Fachverfahren, Zuständigkeiten, Arbeitsroutinen und Qualifikationsanforderungen.
Für einen erfolgreichen Einsatz ist es erforderlich, Prozessverantwortliche, Datenakteure und Systembetreiber eng zu verzahnen. Entwicklungs‑ und Fachteams sollten frühzeitig gemeinsam definieren, welche Prozessschritte automatisiert werden können und wo menschliches Ermessen unabdingbar bleibt. Parallel dazu ist die Qualifikation der Mitarbeitenden zentral. Sie müssen in der Lage sein, Ergebnisse von Agenten einzuordnen, zu bewerten und im Kontext der Verwaltungsaufgabe sachgerecht zu nutzen.
Eine transparente Kommunikation und regelmäßige Abstimmung zwischen IT‑, Fach‑ und Steuerungsebenen stellt sicher, dass rechtliche, datenschutzrelevante und organisatorische Aspekte miteinander verzahnt bleiben. Erfolgreiche Projekte zeichnen sich dadurch aus, dass sie neben technischer Exzellenz auch strukturelle Anschlussfähigkeit schaffen – von der technischen Implementierung bis zur organisatorischen Verankerung im Regelbetrieb.
Perspektive und Fazit
Agentische KI eröffnet der öffentlichen Verwaltung die Möglichkeit, Prozesse dauerhaft effizienter, konsistenter und belastbarer zu gestalten. Sie ersetzt keine Beschäftigten, sondern verlagert Routine‑ und Erfassungsarbeit von Menschen auf Systeme, die diese Aufgaben reproduzierbar, prüfbar und nachvollziehbar ausführen können.
Die Technologie ist einsatzfähig, die strukturellen Voraussetzungen sind über mehrere Stufen aufbaubar. Erfolgreiche Behördenprojekte kombinieren technische Pilotphasen mit gezielten organisatorischen Lernprozessen und schaffen damit die Grundlage für Skalierung und dauerhaften Betrieb.
Die Einführung agentischer KI ist somit kein kurzfristiger Trend, sondern Teil einer langfristigen Verwaltungsmodernisierung. Sie stärkt die Handlungsfähigkeit des öffentlichen Sektors, verbessert die Servicequalität und ermöglicht eine zukunftsfähige Aufgabenerfüllung unter veränderten personellen und demografischen Rahmenbedingungen.
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