Die digitale Transformation bleibt ein zentrales Zukunftsthema für den öffentlichen Sektor und den Dienstleistungsbereich. Neben der fortschreitenden Digitalisierung rücken Reorganisation und „People“-Themen – wie die Verfügbarkeit und Gewinnung qualifizierter Mitarbeitender – verstärkt in den Fokus. Die aktuelle Horváth CxO Priorities Study 2025 bestätigt diese Entwicklung.
Im öffentlichen Sektor sehen über 80 Prozent der Entscheider*innen den demografischen Wandel als klaren Treiber, um Leistungen, Prozesse und Zusammenarbeit grundlegend neu zu gestalten. Nur durch Fortschritte bei Digitalisierung und Automatisierung kann das bestehende Wertversprechen nachhaltig eingelöst werden.
Doch wie gelingt es konkret, die Organisation durch Digitalisierung effektiv zu entlasten und die Effizienz ohne Kompromisse in der Kundenerfahrung zu steigern? Dieser Beitrag zeigt am Beispiel der AOK Niedersachsen, wie Lösungen aussehen können.
Viele öffentliche Organisationen haben bereits umfangreiche Digitalisierungsmaßnahmen umgesetzt: zentral gepflegte Kundendaten, Online-Self-Service-Angebote, datenbasierte Segmentierung und Chatbots wurden für die Interaktion mit Kund*innen und Bürger*innen eingeführt. Dennoch bleibt die Begeisterung oft aus – intern wie extern. Produktivitätsgewinne sind im Alltag selten direkt messbar, und viele Kund*innen bevorzugen weiterhin klassische Wege wie den Besuch vor Ort, das Telefon oder sie reichen Anträge fehlerhaft ein. Eine Transparenz über die gesamte Kundenreise hinweg existiert in der Regel nicht.
Die Gründe hierfür sind vielfältig. Viele Menschen empfinden ihr Anliegen als so individuell, dass es ihrer Meinung nach nicht von technischen Systemen gelöst werden kann. Informationsbedarfe sind oft spezifischer als die Webseitentexte. Hinzu kommen interne Prozessbarrieren, technische Insellösungen sowie ein gewisses Misstrauen gegenüber digitaler Technologie – und ohne Akzeptanz hilft auch die fortschrittlichste Digitalisierung nicht weiter.
Für Sozialversicherungsträger ist die Herausforderung besonders komplex: Während privatwirtschaftliche Unternehmen unter Effizienzgesichtspunkten Kompromisse eingehen können, müssen Träger wie die GKV alle Bürger*innen mitnehmen – Ausnahmen sind keine Option.
Ein innovativer Lösungsansatz, den die AOK-Gemeinschaft, insbesondere die AOK Niedersachsen, gewählt hat, ist die Digitalberatung. Im virtuellen Raum werden Anliegen ebenso individuell und umfassend bearbeitet wie im persönlichen Gespräch am Schreibtisch. Versicherte und Interessierte erhalten persönliche Unterstützung, Online-Prozesse werden gemeinsam abgeschlossen und Anliegen flexibel gelöst. Die Daten werden dabei direkt und sicher in die IT-Systeme übertragen. Organisationen schaffen so eine neue Form der Omnipräsenz: stets persönlich ansprechbar, flexibel erreichbar und mit maximaler Sicherheit für die Kund*innen.
Im folgenden Interview erläutert Jonas Geller von der AOK Niedersachsen die praktische Umsetzung und den Mehrwert der Digitalberatung:
Horváth: Herr Geller, die AOK Niedersachsen setzt seit über zwei Jahren auf Digitalberatung und seit einiger Zeit auch auf den sogenannten Pickup-Service im Rahmen der Online-Mitgliedschaftserklärung (OME). Was waren Ihre Beweggründe und Ziele?
Geller: Die AOK Niedersachsen verfolgt mit der Digitalberatung vier zentrale Ziele. Als Gesundheitskasse ist es essenziell, nah an den Versicherten zu sein – das ist ein Kern unseres Werteversprechens. Die Herausforderung bestand darin, diese persönliche Nähe auch digital sicherzustellen. Die Digitalberatung bietet hierfür die optimale Lösung.
Wir beschäftigen uns zudem mit der optimalen Gestaltung unseres Kanal-Mixes. Die Digitalberatung ist ein hybrides Format, das die Lücke zwischen digitalen und klassischen Präsenzkanälen schließt und eine medienbruchfreie Bearbeitung von Kundenanliegen ermöglicht. Aus vertrieblicher Sicht ist die Effizienzsteigerung wichtig: Mehr Konversionen und erfolgreiche Kontakte sind das Ergebnis.
Ein weiteres Ziel ist die Förderung engagierter und motivierter Mitarbeitender. Die Digitalberatung unterstützt flexible Modelle wie Homeoffice und variable Arbeitszeiten.
Horváth: Wie läuft der Prozess der Online-Mitgliedschaftserklärung ab? Wie wird die digitale Beratung eingesetzt und welcher Nutzen entsteht?
Geller: Befindet sich ein Interessent auf unserer Webseite und dem Online-Formular, erhält er ein Angebot zur persönlichen Beratung. Ein Icon lädt zum Live-Chat ein. Wird dieser gestartet, erfolgt im Hintergrund eine Anfrage und Zuordnung zu einem verfügbaren Mitarbeitenden. Nach Eingabe der Kontaktdaten wird der Interessent einem freien Berater zugewiesen. Außerhalb der Servicezeiten kann ein Termin gebucht werden.
Im Gespräch unterstützt der Mitarbeitende direkt auf dem Bildschirm, beantwortet Fragen und hilft beim Ausfüllen von Formularen, wie in unserem Fall, dem Mitgliedschaftsantrag. Die Kommunikation erfolgt per Chat, Audio- oder Videocall, sodass die persönliche Interaktion stets erhalten bleibt. Der Nutzen: Der Interessent wird dort abgeholt, wo er sich ohnehin aufhält, und effizient gebunden. Ohne Medienbrüche erfolgt schnelle und effektive Unterstützung. Diese Kombination von Self-Service mit persönlicher Beratung bietet auch Potenzial für andere Prozesse.
Horváth: Welche Erfahrungen und Rückmeldungen haben Sie mit diesem Ansatz gesammelt?
Geller: Die Resonanz ist durchweg positiv. Wir haben über 1.800 Beratungsanfragen in 2 Jahren bearbeitet und rund 250 neue Mitglieder gewonnen – etwa zweieinhalb pro Woche über diesen Kanal. Die Conversion Rate auf unserer OME-Seite stieg um 15% auf rund 14%. Besonders erfreulich: 86% der befragten Kund*innen sind mit der Pickup-Lösung sehr zufrieden.
Auch intern haben wir positives Feedback erhalten. Die Digitalberatung wird als Bereicherung und attraktive Arbeitsmöglichkeit gesehen.
Horváth: Mit welchem Aufwand war die Einführung verbunden?
Geller: Die Implementierung war vergleichsweise einfach. Die Web-Applikation wurde als Software-as-a-Service eingekauft und ließ sich mit entsprechender Konfiguration nahtlos integrieren. Programmieraufwände gab es nur bei der Anpassung der Webseite und der Installation des Einstiegs-Icons. So konnten wir innerhalb weniger Wochen einen erfolgreichen Piloten starten, der sich mittlerweile im Regelbetrieb bewährt hat. Die Schulung der Mitarbeitenden ist überschaubar, da viele bestehende Prozesse genutzt werden.
Horváth: Damit ein solcher Erfolg möglich wird, mussten Sie organisatorische Anpassungen vornehmen.
Geller: Die Einführung der Digitalberatung ermöglichte organisatorischen Veränderungen. Wir konnten spezialisierte Teams für den Distanzvertrieb etablieren. Zeitgleich musste die Führungskultur für virtuelle Zusammenarbeit weiterentwickelt werden – ein Prozess, den wir bereits während der Corona-Pandemie begonnen hatten.
Die Anforderungen an die Mitarbeitenden haben sich ebenfalls gewandelt: Digitale Beratung erfordert den effektiven Einsatz unterstützender Technologien, wie automatisierte Übersetzungsfunktionen. Dafür haben wir gezielte Schulungen durchgeführt. Unser Ziel, die Attraktivität als Arbeitgeber zu steigern, wurde erreicht: Flexible Nutzung und ein abwechslungsreiches Arbeitsumfeld tragen dazu bei. Die Akzeptanz bei Mitarbeitenden und Kund*innen ist aufgrund des spürbaren Mehrwerts sehr hoch.
Diese Einblicke zeigen, dass die Einführung einer Digitalberatung für Sozialversicherungsträger vielfältige Potenziale eröffnet. Durch einen zusätzlichen hybriden Kommunikationskanal können sie ihren Versorgungsauftrag auch in einer zunehmend digitalen Gesellschaft individuell und persönlich erfüllen. Gleichzeitig ergeben sich Möglichkeiten, demografische Herausforderungen gezielt anzugehen, indem die Mitarbeitenden effizient und bedarfsgerecht eingesetzt werden.