Wir hatten kein Erkenntnis-, sondern Umsetzungsdefizit
Prof. Eßig über Ambivalenzen der öffentlichen Beschaffung
Verwaltung der Zukunft: Sie sind seit vielen Jahren ein wichtiger Vordenker in der öffentlichen Beschaffung. Was bedeutet für Sie persönlich „gut einkaufen“ im 21. Jahrhundert?
Prof. Michael Eßig: Wir stehen derzeit in einer sehr ambivalenten Situation der öffentlichen Beschaffung. Einerseits wächst das Beschaffungsvolumen enorm, etwa in den Bereichen Sicherheit, Verteidigung oder Infrastruktur. Hier bedeutet guter Einkauf, viel Geld sinnvoll für Qualität, Leistung und Innovation einzusetzen. Andererseits stehen die öffentlichen Haushalte unter massivem Konsolidierungsdruck, wir müssen also gleichzeitig stark sparen.
Die Herausforderung ist daher zweigleisig. In manchen Bereichen innovativ und hochwertig investieren, in anderen konsequent Kosten senken und zur Haushaltskonsolidierung beitragen. Diese gleichzeitige Spannung zwischen „viel Geld gut ausgeben“ und „unter Kostendruck sparen“ gab es in dieser Form so noch nie.
VdZ: Sie sind in diesem Jahr erneut Kongresspräsident der Beschaffungskonferenz. Wie hat sich die Diskussion rund um die Themen der Beschaffung und Vergabe in den letzten Jahren verändert?
Prof. Eßig: Hier passt wieder dieses Motiv der Ambivalenz. Einerseits habe ich mir angeschaut, seit wann ich bei der Beschaffungskonferenz bin – so um 2008 – und festgestellt: Viele Themen von damals sind heute immer noch aktuell. Innovation, Nachhaltigkeit, grüne Beschaffung, auch die Diskussion um Start-ups in der ersten E-Business-Welle – das war alles schon da. Man könnte also sagen: Wir reden seit Jahren über dieselben Dinge wie Entbürokratisierung und Vereinfachung, ohne dass sich viel ändert.
Andererseits erleben wir gerade tatsächlich zum ersten Mal größere Umsetzungen in der strategischen Ausrichtung. Denken Sie an die Anhebung der Wert- und Direktauftragsgrenzen, da passiert viel. Früher hatten wir kein Erkenntnisdefizit, sondern ein Umsetzungsdefizit. Der Handlungsdruck ist jetzt so groß geworden, dass viele dieser Themen endlich wirklich angegangen werden.
Es gab durchaus Fortschritte in der Zeit. Wir haben heute eine Kompetenzstelle für nachhaltige Beschaffung und ein Kompetenzzentrum für innovative Beschaffung, es ist also nicht so, als wäre nichts passiert. Und niemand würde mehr bestreiten, dass öffentliche Beschaffung einen Beitrag zu strategischen Zielen wie CO₂-Reduktion oder Innovationsförderung leisten soll.
Die eigentliche Frage ist aber, ob Vergabestellen auch die Möglichkeiten bekommen, diese Ziele wirklich umzusetzen. Da liegen die größten Hebel, und da bleiben wir meines Erachtens noch hinter dem zurück, was möglich wäre. Nicht aus mangelndem Willen, sondern wegen der organisatorischen Rahmenbedingungen in der öffentlichen Hand.
VdZ: Ein Schwerpunkt der Konferenz ist der geopolitische Wandel. Was verändert sich für die öffentliche Beschaffung, wenn Themen wie Resilienz und Souveränität so stark in den Vordergrund rücken?
Prof. Eßig: Grundsätzlich beeinflussen Resilienz und Souveränität die öffentliche Beschaffung stark. Bisher setzte man auf offene Märkte, europaweit oder sogar global, und auf Wettbewerb. Dieses Modell gerät jedoch zunehmend unter Druck: restriktive Handelspolitik, Zollschranken, Marktabschottung und Abhängigkeiten von globalen Lieferketten, wie wir spätestens seit Corona bei Schutzmasken und bei kritischen Rohstoffen oder Chips gesehen haben.
Das hat direkte Folgen für die Beschaffung. Zum Beispiel erlaubt das Bundeswehr-Planungs- und Beschaffungsbeschleunigungsgesetz erstmals Vorgaben zu europäischen Wertschöpfungsanteilen bei Produkten und Unterauftragnehmern. Ziel ist mehr Resilienz und Souveränität, gleichzeitig geben wir das Prinzip offener Märkte teilweise auf – was Produkte tendenziell teurer macht. Geopolitik wirkt oft abstrakt, zeigt hier aber sehr konkrete Auswirkungen auf das Beschaffungshandeln.
VdZ: Berlin und Brüssel setzen neue Impulse, von Beschleunigungsgesetzen bis zur EU-Standardisierung. Welche dieser Maßnahmen sind für Sie die entscheidendsten?
Prof. Eßig: Wie der Name schon sagt, zielt das Vergabebeschleunigungsgesetz erstmals explizit auf Beschleunigung: Verkürzung von Fristen, Anhebung von Direktauftragsgrenzen, mehr Flexibilität für die öffentlichen Einkäuferinnen und Einkäufer. Das sind wichtige Schritte Richtung Vereinfachung und wirtschaftsfreundlichere Beschaffung. So etwas hatten wir bisher in der öffentlichen Beschaffung so prominent als Hauptziel eigentlich nicht.
Wir sehen, dass die Maßnahmen aus Brüssel in Richtung Vereinfachung, Beschleunigung und wirtschaftsfreundlichere Gestaltung gehen. Dazu gehören Anhebung der Direktauftragsgrenzen, Verkürzung von Fristen und mehr Flexibilität – all das erweitert den Handlungsspielraum der öffentlichen Einkäufer deutlich.
Gleichzeitig müssen wir aufpassen, dass dadurch kein Wildwuchs entsteht. Direktauftragsgrenzen dürfen nicht heißen, dass jeder einfach macht, was er will. Wir brauchen digitale Instrumente, die schnell Bestellungen ermöglichen, aber trotzdem zentralen Überblick und Kontrolle sicherstellen. Etwa um Bündelungspotenziale zu erkennen und die Beschaffungsfunktion zu stärken.
VdZ: Nachhaltigkeit und soziale Verantwortung treffen immer auch auf Haushaltsdruck und Effizienz. Ist das ein unlösbarer Zielkonflikt? Oder gibt es gute Ansätze, beides zu vereinen?
Prof. Eßig: In der Praxis macht es das nicht einfacher, weil Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit zusammenhängen und nicht getrennt gedacht werden können. Schon der Brundtland-Bericht hat drei Dimensionen der Nachhaltigkeit benannt: ökologisch, sozial und wirtschaftlich, die integriert betrachtet werden müssen.
Ein Beispiel: Das günstigste Produkt in der Anschaffung ist über die gesamte Nutzungsdauer oft nicht wirtschaftlich. Mit Instrumenten wie der Lebenszykluskostenrechnung sieht man etwa bei Fahrzeugen, dass Elektroautos trotz höherer Anschaffungskosten langfristig günstiger und nachhaltiger sind. Wirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit sind also kein Widerspruch, sondern ergänzen sich.
Ein anderes Beispiel ist die Kreislaufwirtschaft. Sie reduziert nicht nur ökologische Belastungen, sondern auch die Abhängigkeit von kritischen Rohstoffen und steigert die Souveränität.
Das Problem: Solche Analysen, ob Lebenszykluskosten oder Lieferkettenprüfung, sind in der Praxis sehr aufwendig. Meine Sorge ist, dass darüber zwar viel gesprochen wird, es aber aus Ressourcengründen zu selten wirklich umgesetzt wird.
VdZ: Abseits der großen Themen: Gibt es eine ganz konkrete Innovation oder Praxis, die Sie sofort in allen Beschaffungsstellen umsetzen würden, wenn Sie könnten?
Prof. Eßig: Ja, im Kern geht es darum, der Beschaffung die Möglichkeit zu geben, diese Konzepte auch wirklich umzusetzen. Die Ideen sind ja nicht neu oder unbekannt. Die Frage ist, wie sie in der Praxis umgesetzt werden können. Und da gibt es noch großen Nachholbedarf. Nicht, weil der Wille fehlt, sondern weil oft die Ressourcen nicht reichen, die Strukturen zu eng sind oder die Beschaffung nicht strategisch genug verankert ist. Von einer wirklich strategischen Beschaffung sind wir in der Umsetzung noch ein gutes Stück entfernt.
VdZ: Und was wünschen Sie sich ganz persönlich von dieser 26. Beschaffungskonferenz?
Prof. Eßig: Die Beschaffungskonferenz war und ist ein Ort des Austauschs. Wenn ich mir etwas wünschen darf, ist es genau dieser Dialog zwischen Beschaffungspraxis und Politik, zwischen den vermeintlich globalen Fragen und ihren täglichen Auswirkungen im Beschaffungshandeln. Wenn wir einen modernen, zukunftsfähigen Staat und eine leistungsfähige Verwaltung gestalten wollen, brauchen wir einen leistungsfähigen Einkauf. Und das schafft keine Vergaberechtsreform alleine, es bedarf einer konzentrierten Aktion mit modernen Steuerungs- und Umsetzungsinstrumenten im Zusammenwirken mit leistungsfähigen Lieferanten.
Prof. Dr. Michael Eßig bei der 26. Beschaffungskonferenz
🗓️ 22.–23. September, Kongressbereich des Hotel de Rome
➡️ Hier geht's zum Programm
Prof. Dr. Michael Eßig spicht beim Eröffnungsplenum der 26. Beschaffungskonferenz "Vergabe und Beschaffung im geopolitischen Wandel – Welche neuen Impulse setzen Berlin und Brüssel?", beim besonderen Gespräch am Abend "Organisation, Erfolgsindikatoren und Kennzahlen für das Beschaffungsmanagement in der Verwaltung der Zukunft" und im Forum zu "Beschleunigte Bundeswehr-Beschaffung als Konjunktur- und Innovationsmotor".