King's College London
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Mögliche Lehren aus der Forschung zur „Strategischen Überraschung“

Interview mit Prof. Dr. Christoph Meyer – inklusive Diskussionspapier zum Download

Im Vorfeld des 7. Berliner Kongresses Wehrhafte Demokratie haben wir mit Prof. Dr. Christoph Meyer über die aktuelle deutsche Sicherheitsarchitektur und die Rolle von Nachrichtendiensten gesprochen.
Meyer ist seit 2007 Professor für Europäische und Internationale Politik am King’s College London. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit Fragen der Wissensproduktion und des vorausschauenden Handelns, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik.

Verwaltung der ZukunftWas genau versteht man unter „strategischer Überraschung“, und welche konkreten Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit sind für Ihre Forschung besonders relevant?

Prof. Dr. Christoph MeyerStrategische Überraschungen ergeben sich aus der Einsicht maßgeblicher Entscheider und einflussreicher Experten, dass grundlegende Annahmen hinter wichtigen politischen Strategien und Entscheidungen falsch oder zumindest hoch zweifelhaft sind. Dies geschieht häufig in Folge unerwarteter Ereignisse – etwa erfolgreicher Angriffe, die nur deshalb möglich wurden, weil die Absichten und Fähigkeiten der Angreifer unterschätzt wurden. In jüngerer Zeit gehörten dazu beispielsweise die hybride Kriegsführung Russlands im Jahr 2014, die zur Annexion der Krim führte, die Erfolge des IS im Irak und in Syrien oder auch der Angriff der Hamas auf Israel.

Es gibt jedoch auch nicht zentral geplante, sogenannte diffuse strategische Überraschungen – etwa die arabischen Aufstände in den Jahren 2010 bis 2013. Überraschungen müssen nicht ausschließlich negative Folgen haben, sondern können auch Chancen eröffnen.

VdZ: Inwiefern ist die aktuelle deutsche Sicherheitsarchitektur anfällig für strategische Überraschungen?

Prof. Meyer: Es ist generell schwierig, dominante Annahmen infrage zu stellen und zu revidieren – sei es als Minderheitsposition unter Experten oder als Nachrichtendienst, der mit Warnungen bei Bedarfsträgern durchdringen will. Denn eine Veränderung der Annahmen erfordert meist auch eine kostenträchtige Veränderung des Handelns.

Daher ist es fatal, wenn Entscheidungsträger zwischen verschiedenen Lageeinschätzungen von Diensten und Ministerien „Rosinenpickerei“ betreiben können – wie es im deutschen System gegenwärtig häufig der Fall ist. Es fehlt an der gemeinsamen Erarbeitung einer konsistenten und glaubwürdigen vorausschauenden Lageeinschätzung auf Basis aller verfügbaren Erkenntnisse.

Zudem mangelt es an ausreichend Möglichkeiten zur Kommunikation und Vertrauensbildung zwischen Nachrichtendiensten und Bedarfsträgern, sodass Warnungen oft nicht klar und eindringlich genug kommuniziert und verstanden werden. 

Und schließlich dürfen wir neben der Diskussion über Kompetenzen, Prozesse und Ressourcen auch Fragen der tatsächlich gelebten Kultur nicht außer Acht lassen. Stark hierarchisch geprägte und risikoaverse Organisationskulturen sind generell problematisch für das Leitbild eines lernenden Staates. Wer möchte schon mit allzu lauten Warnungen seine Karriere riskieren? Und wer trifft präventive Maßnahmen, wenn diese politisch oder medial negativ ausgelegt werden?

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Wer möchte schon mit allzu lauten Warnungen seine Karriere riskieren? Und wer trifft präventive Maßnahmen, wenn diese politisch oder medial negativ ausgelegt werden?

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VdZ: Können internationale Forschungsergebnisse, z. B. aus Großbritannien, als Vorbild für eine deutsche Reform dienen? 

Prof. Meyer: Großbritannien hat in der Vergangenheit immer wieder aus strategischen Überraschungen gelernt – etwa aus Argentiniens Angriff auf die Falklandinseln –, indem Expertenkommissionen und öffentliche Untersuchungen eingesetzt wurden. Die Strukturen zur Wissensproduktion und Kommunikation mit der Politik wurden auf dieser Basis kontinuierlich angepasst und weiterentwickelt. Deutschland hat beim systematischen Lernen aus Überraschungen noch Nachholbedarf – auch wenn die Afghanistan-Enquete ein wichtiger Fortschritt war.

Zu den britischen Strukturen gehört unter anderem das Joint Intelligence Committee als zentrale Stelle zur zusammenführenden Bewertung verschiedener nachrichtendienstlicher Quellen mit klarer Warnfunktion. Seit 2010 existiert zudem ein Nationaler Sicherheitsrat (NSC). Der NSC und der Nationale Sicherheitsberater haben die Kommunikation mit dem JIC verbessert und fundiertere Diskussionen über Sicherheitsfragen ermöglicht.

Insgesamt gibt es in Großbritannien eine größere politische wie gesellschaftliche Wertschätzung für die Arbeit der Nachrichtendienste und ihren Beitrag zur nationalen Sicherheit und erfolgreichen Außenpolitik. Interessierte und kompetente Bedarfsträger erhöhen die Qualität der Analysearbeit – so wie man deutschen Kunden keine schlecht gebauten Autos verkaufen kann oder in Frankreich kein minderwertiges Essen.

VdZ: Welche strukturellen Aufgaben sind aus Ihrer Sicht besonders wichtig, um Verteidigung und Nachrichtendienste zukunftsfähig aufzustellen?

Prof. Meyer: Es gilt, das Silodenken und die Konkurrenz zwischen ministeriellen Lagebildern zu überwinden. Hier können der geplante Sicherheitsrat und ein gemeinsames Lagezentrum helfen – sofern dort konsistente Einschätzungen erarbeitet werden, noch bevor es zu divergierenden Bewertungen in den Ressorts kommt.

Darüber hinaus braucht es eine bessere Sensibilisierung von Entscheidern und Parlamentariern für den Umgang mit und die Interpretation von nachrichtendienstlichen Erkenntnissen. Nur so kann das vorhandene Wissen auch tatsächlich genutzt werden. Die Schaffung eines Direktors für Nachrichtendienste könnte hier sowohl nach innen als auch nach außen eine stärkende Wirkung entfalten.

Statt einer institutionellen Kultur des Misstrauens gegenüber Nachrichtendiensten benötigen wir eine überarbeitete Form der Kontrolle – eine, die tatsächlich Vertrauen schafft. Dabei sollte der Fokus stärker auf der Wirksamkeit und politischen Steuerung liegen, weniger auf legalistisch-bürokratischer Überwachung.

Und schließlich brauchen wir mehr Raum und Wertschätzung für außen- und sicherheitspolitisches Zukunftsdenken in Regierung, Wissenschaft und Öffentlichkeit. Zukunftsfähigkeit ist nicht möglich, wenn Politik nur kurzfristigen medialen Impulsen und Umfragen folgt – sie muss führen, um Gestaltungsspielräume zu eröffnen.

Die Einrichtung eines unabhängigen Sachverständigenrats für außen- und sicherheitspolitische Risiken und Chancen könnte dabei helfen. Dieser Rat – oder ein entsprechendes Zentrum – würde dem Parlament zuarbeiten, nicht der Regierung, aber diese müsste zu seinen Analysen regelmäßig Stellung beziehen. Vielleicht könnten damit künftig Entscheidungen wie jene für Nord Stream 2 – und die daraus folgenden falschen Signale an Russland, die stärkere Abhängigkeit von russischem Gas sowie das gewachsene Misstrauen osteuropäischer Partner gegenüber Deutschland – vermieden werden.

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7. Berliner Kongress Wehrhafte Demokratie

  • 16. - 17. Juni 2025

  • Kongresscenter im Hotel de Rome

Der Berliner Kongress Wehrhafte Demokratie unter der Kongresspräsidentschaft von Wolfgang Bosbach versammelt einmal jährlich die führenden Köpfe aus Politik, Sicherheitsbehörden, Bundeswehr, Zivilgesellschaft, Verwaltung, Justiz, Wissenschaft, Medien und Wirtschaft rund um das Themenfeld der Sicherheit. Was 2018 mit dem Schwerpunkt Innere Sicherheit begann, hat sich über die Jahre angesichts der neuen Bedrohungs- und Gefährdungslagen von außen und innen zu einem Dialog für Innere Sicherheit, Verteidigungsfähigkeit und gesellschaftlichen Zusammenhalt entwickelt.

Der 7. Berliner Kongress Wehrhafte Demokratie - Gesellschaftlicher Dialog für Innere Sicherheit, Verteidigungsfähigkeit und Zusammenhalt findet vom 16. bis 17. Juni 2025 im Hotel de Rome in Berlin statt.