„Es muss verhindert werden, dass Menschen aufgrund von Zwang oder Gewalt ihre Heimatländer verlassen müssen.“
5 Fragen an Wolfgang Gressmann, NRC-Länderdirektor im Irak
VdZ: Was sind Ihre Aufgaben als Länderdirektor der Hilfsorganisation ‚Norwegian Refugee Council‘ (NRC) im Irak?
Gressmann: Der Verantwortungsbereich des Länderdirektors einer globalen Hilfsorganisation ist ungefähr mit dem eines Geschäftsführers der Länderpräsenz eines mittleren oder größeren international agierenden Wirtschaftsunternehmens vergleichbar. Das Gleiche dann aber in Ländern mit oft extremen Sicherheitsproblemen und allgegenwärtigem Elend – nicht immer einfach also.
Der Bedarf an lebensrettenden Maßnahmen durch zahlreiche bewaffnete Konflikte, Naturkatastrophen und daraus resultierende Fluchtbewegungen ist weltweit gestiegen.
In den letzten zehn, fünfzehn Jahren hat sich dabei in der humanitären Hilfe in Kriegs- und Krisenregionen weltweit viel getan. Nicht nur der Bedarf an lebensrettenden Maßnahmen durch zahlreiche bewaffnete Konflikte, Naturkatastrophen und daraus resultierende Fluchtbewegungen ist weltweit gestiegen. Auch die Etats, mit denen große Hilfswerke, wie zum Beispiel die Norwegische Flüchtlingshilfe (NRC), Hilfe für Menschen in Not leisten, haben sich erhöht.
Hier im Irak hat das NRC zurzeit ein Jahresbudget von über 50 Millionen Euro. Wir haben über 500 Mitarbeiter im Land, und helfen mehr als 1,2 Millionen Menschen pro Jahr.
Mit der Erhöhung der Hilfsmittel, zum Beispiel durch die deutsche Bundesregierung oder durch die Europäische Union, gehen oft komplizierte Bedingungen und Verfahren einher, was den Nachweis der gemeinnützigen Mittelverwendung anbelangt. Die Effizienz der Arbeit von Hilfsorganisationen wird dabei oftmals wesentlich strenger überwacht als in Geschäftsfeldern der Privatwirtschaft oder auch des öffentlichen Dienstes. Das ist gut so, kostet aber auch sehr viel Zeit, und ist einem Land wie dem Irak, in dem weiterhin massive Sicherheitsprobleme für die Bevölkerung, aber auch unsere Mitarbeiter bestehen, nicht einfach.
Die Sicherheit unserer Mitarbeiter ist die wichtigste Aufgabe eines Länderdirektors. Wir haben bewährte Sicherheitsverfahren entwickelt, die es uns ermöglichen, auch in schwer erreichbaren Gebieten Hilfe zu leisten.
Die Koordinierung mit anderen Akteuren ist ebenfalls zentral. Zum einen, um Lücken zu vermeiden, und zum anderen, um sicherzustellen, dass wirklich die Bevölkerungsgruppen erreicht werden, die unsere Hilfe am dringendsten benötigen.
VdZ: Sie sprechen von extremen Sicherheitsproblemen und allgegenwärtigem Elend. Laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) liegt der Irak hinter Syrien auf Platz zwei der Herkunftsländer der meisten Asylbewerber in Deutschland. Könnten Sie die humanitäre Situation der Bevölkerung im Irak noch etwas genauer beschreiben?
Gressmann: Der Irak ist seit Jahrzehnten von Krieg, Sanktionen, internen Konflikten und großem, menschlichen Leid betroffen. Der Krieg im vergangenen Jahr zwischen dem sogenannten „islamischen Staat“ (IS) und der irakischen Regierung und einer USA-geführten Allianz führte zur Vertreibung von über sechs Millionen Menschen. Und auch nach dem Ende der militärischen Offensive benötigen acht Millionen Menschen im Land weiterhin humanitäre Hilfe.
Über drei Millionen Kinder konnten unter dem IS Regime jahrelang nicht zur Schule gehen und sind oft schwer traumatisiert. Viele Iraker sind in Gebiete zurückgekehrt, in denen die Infrastruktur zerstört ist, Möglichkeiten zum Lebensunterhalt fehlen oder die weiterhin mit Minen und Sprengkörpern verseucht sind.
Darüber hinaus sind noch immer 100.000 Yesiden im Ausland und warten auf bessere Bedingungen für eine sichere Rückkehr.
In der Region Sinjar zum Beispiel sind vier Jahre nach dem Völkermord durch den IS immer noch 253.000 Yesiden vertrieben, leben oft in Lagern und unter schrecklichen Bedingungen. Darüber hinaus sind noch immer 100.000 Yesiden im Ausland und warten auf bessere Bedingungen für eine sichere Rückkehr.
Andere vertriebene Iraker können aufgrund vermuteter IS Zugehörigkeit nicht in ihre Herkunftsgebiete zurückkehren oder werden bei ihrer Rückkehr mit Vergeltungsmaßnahmen und Ausgrenzung konfrontiert. Darüber hinaus haben hunderttausende Iraker Bürgerdokumente wie nationale Ausweise, Geburtsurkunden und Eigentumsurkunden verloren und benötigen Rechtsbeistand.
Nachdem die Militäroperationen gegen den IS beendet sind, steht die irakische Regierung nun vor neuen Herausforderungen, um einen integrativen Wiederaufbau und eine friedliche Versöhnung zu gewährleisten. Dies ist jedoch jenseits der Kapazität der irakischen Regierung allein. Die Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft ist dringend erforderlich. Der Wiederaufbau der vom Krieg betroffenen Gebiete wird mindestens 10 Jahre dauern und mehr als 88 Milliarden US-Dollar kosten.
VdZ: Ein erheblicher Teil der Asylanträge irakischer Staatsbürger wird in Deutschland abgelehnt. Zu Recht? Oder sehen Sie die gegebenenfalls temporäre Aufnahme von Irakern im westlichen Ausland eher als Teil der Lösung?
Gressmann: Sicherlich könnten die deutschen Behörden die Bearbeitung von Asylanträgen effizienter und gerechter gestalten. Trotz einheitlicher Regelungen gibt es vor allem große Unterschiede zwischen den Anerkennungsquoten in den einzelnen Bundesländern. In Ländern, in denen es mehr fremdenfeindliche Übergriffe gibt, ist die Anerkennungsquote oft besonders gering. Hier muss der Handlungsspielraum auf Länderebene eingeschränkt werden.
Auf jeden Fall ist die temporäre Aufnahme von Flüchtlingen die klare Verpflichtung aller 145 Staaten, die die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 ratifizierten. Die Aufnahmebereitschaft Deutschlands ist insbesondere auf europäischer Ebene vorbildlich. Das Kernprinzip der Genfer Konvention ist dabei das sogenannte „Non-Refoulement“, das besagt, dass ein Flüchtling nicht in ein Land zurückgeschickt werden sollte, in dem er ernsthaft bedroht ist. Doch genau das passiert leider immer wieder, auch in Deutschland, zum Beispiel in Länder wie Afghanistan oder den Irak.
Tatsächlich ist es aber auch so, dass gerade diejenigen Iraker, die sich die teure und oft illegale Einreise nach Deutschland nicht leisten können, wesentlich schutzbedürftiger sind.
Tatsächlich ist es aber auch so, dass gerade diejenigen Iraker, die sich die teure und oft illegale Einreise nach Deutschland nicht leisten können, und die Zuhause oft großer Gefahr ausgesetzt sind, wesentlich schutzbedürftiger als diejenigen sind, die den Weg nach Deutschland geschafft haben. Das macht die nachhaltige Hilfe hier vor Ort im Irak so wichtig, und kann auch dazu beitragen, dass weniger Menschen das Land verlassen müssen. Außerdem muss auch das Asylverfahren auf internationaler Ebene erleichtert werden, etwa durch die Einführung von „humanitären Visas“, die im Herkunftsland beantragt werden können.
VdZ: Wenn die schutz- und hilfsbedürftigsten Menschen sich gar nicht erst eine Flucht leisten können, stellt das letztlich die gesamte Flüchtlingspolitik infrage – denn ernstgemeinte Hilfe müsste in erster Linie vor Ort erfolgen. In Deutschland ist stets die Rede davon, die Fluchtursachen zu bekämpfen. Nehmen Sie ein Engagement des Westens wahr, das in diesem Sinne die Situation in den Herkunftsländern – konkret im Irak – nachhaltig verbessern würde?
Gressmann: International wird nicht genug unternommen, um humanitäre Krisen zu verhindern. Das Kind muss quasi erst in den Brunnen fallen, bevor Regierungen etwas unternehmen. So denken viele Menschen, auch in Deutschland: Der Irak ist ja weit weg, Afghanistan ist weit weg. Warum sollten wir dort mit Steuergeldern Entwicklungshilfe leisten?
Das ist ein klares Beispiel dafür, dass wir die Probleme vor Ort anpacken müssen, sonst kommen die Probleme zu uns.
Im Syrienkonflikt hat sich Deutschland jahrelang weitgehend passiv verhalten. Und auch im Irak hat Deutschland zu wenig unternommen, zum Beispiel um dem Genozid an den Yesiden Einhalt zu gebieten. Jetzt leben zehntausende Yesiden in Deutschland, während deren Stadt Sinjar unverändert in Trümmern liegt. Das ist ein klares Beispiel dafür, dass wir die Probleme vor Ort anpacken müssen, sonst kommen die Probleme zu uns.
Desweiteren wurden im Irak - wie so oft - wesentlich mehr Geld für Bombenangriffe ausgegeben als für anschließende Hilfs- und Wiederaufbaumaßnahmen. Der Westen und auch die deutsche Bundesregierung helfen zwar, aber die geleistete Hilfe reicht bei weitem nicht aus.
Viele Iraker fliehen jetzt nicht nur wegen der Unsicherheit oder mangelnder Hilfe, sondern auch weil sie keine nachhaltige Zukunft für sich und ihre Familien in ihrem Heimatland sehen. Es müssen also erhebliche Anstrengungen unternommen werden, um sicherzustellen, dass die Iraker in der Lage sind, ihr Land wiederaufzubauen, ein menschenwürdiges Leben zu führen und somit riskante Migrationsbewegungen zu vermeiden.
VdZ: Sie beschreiben eine globale Wirkungskette: Kriege und Naturkatastrophen, aber natürlich auch Armut, führen zu Leid. Die internationale Gemeinschaft ist aufgerufen zu helfen. Tut sie es nicht oder nicht ausreichend wirksam, treten die Betroffenen die Flucht an – immer öfter bis in den Westen. Doch kann humanitäre oder Entwicklungshilfe Menschen wirklich von einer Flucht abhalten? Oder überwiegen längst die wahrgenommenen Anreize und die Möglichkeit, bis nach Europa zu kommen?
Gressmann: Es darf nicht darum gehen, Migration zu verhindern. Es muss verhindert werden, dass Menschen aufgrund von Zwang oder Gewalt ihre Heimatländer verlassen müssen. Migration darf nicht kriminalisiert, sondern muss erleichtert werden. Flüchtlinge sollten nicht gezwungen sein, illegal nach Europa zu gelangen, weil sie sonst kein Asyl beantragen können.
Die meisten Migranten aus Westafrika kommen seit Jahrhunderten nach Libyen, um dort zu arbeiten und anschließend wieder nach Hause zurückzukehren.
Und es geht vorrangig auch gar nicht um Europa. Ein Beispiel: Die meisten Migranten aus Westafrika kommen seit Jahrhunderten nach Libyen, um dort zu arbeiten und anschließend wieder nach Hause zurückzukehren. Aber weil die Bedingungen in Libyen so schlecht sind, bleibt vielen oft keine andere Wahl, als die gefährliche Überfahrt nach Italien zu wagen.
Unterdessen gibt es zur humanitären Hilfe in Krisengebieten und Entwicklungszusammenarbeit keine vernünftige und menschenwürdige Alternative. Hier ist heutzutage besonders Europa gefordert: Die bisher größte Gebernation, die USA, ziehen sich verstärkt aus der Entwicklungsfinanzierung zurück. Das bringt viele NGO und UN-Programme in große Schwierigkeiten, während der Bedarf an Hilfe weltweit stetig wächst.
Der Trend in Deutschland, Hilfe für Flüchtlinge - auch in Deutschland - als „Entwicklungshilfe“ zu verrechnen, um so das Ziel zu erreichen, 0,7 Prozent des BIP für Entwicklungszusammenarbeit bereitzustellen, ist besorgniserregend. Zahlen müssen Industrienationen wie Deutschland sowieso. Aber dann doch besser, bevor sich Menschen auf die Flucht begeben müssen.