Bosbach
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Im Gerichtssaal verhaftet werden, für Taten, die gar nicht angeklagt waren? Geht das?

Wolfgang Bosbach über einen aktuellen Fall vor dem Landgericht Köln

Um das Ergebnis gleich vorweg zu nehmen: Ja, das geht! Das kommt in unseren Gerichtssälen zwar nicht häufig vor, ist aber auch keine juristische Sensation.

Der Fall, in aller Kürze: Januar 2022, Landgericht in Köln. Vor der Strafkammer verhandelt wird der Fall des katholischen Priesters Hans U., der sich dort seit November 2021 verantworten muss. Der Vorwurf: Er soll in den 1990er Jahren seine drei minderjährigen Nichten zum Teil schwer missbraucht und sich 2011 an einem 11-jährigen Mädchen vergangen haben.

Zu den jeweiligen Verhandlungsterminen und Beweisaufnahmen wird der Angeklagte jedoch nicht aus der U-Haft vorgeführt, denn er befindet sich zunächst auf freiem Fuß. Offensichtlich mangels Haftgrund.

Die teils stundenlangen Aussagen der Opferzeuginnen belasten den Angeklagten schwer.

Detail am Rande: Noch während der Hauptverhandlung wurden weitere potentiell Geschädigte ermittelt, die von möglichen sexuellen Übergriffen des Angeklagten zu ihren Lasten berichten. Darunter auch Tatvorwürfe aus der jüngeren Vergangenheit. Die letztgenannten Taten waren allerdings nicht (!) Gegenstand der laufenden Verhandlung. Außerdem entdeckte der Vorsitzende Richter im Publikum(!) eine junge Frau, die durch das Gehörte und Erlebte ganz offensichtlich zutiefst erschüttert war und auch sie belastete anschließend in ihrer Aussage den Angeklagten schwer.

Dann klickten die Handschellen.

Aber: Wieso erst jetzt? Warum war der Angeklagte nicht schon zuvor in U-Haft? Gute Frage.

Allerdings: Der dringende Tatverdacht ALLEINE genügt für die Anordnung von U-Haft grundsätzlich nicht, nur in besonders gelagerten Fällen. So zum Beispiel beim Verdacht auf Mord oder Totschlag, weil in diesen Fällen das zu erwartende Strafmaß so hoch ist, dass es Grund zu der Annahme gibt, dass sich der Beschuldigte absetzen wird, um der Strafe zu entgehen. Ansonsten gilt: Dringender Tatverdacht plus Haftgrund. Ein solcher könnte sein:

  • Flucht oder Fluchtgefahr. Es bestehen Anhaltspunkte dafür, dass der Beschuldigte „abhauen“ möchte, was der Natur der Sache noch bei Doppel- oder Mehrfachstaatlern eher vermutet werden kann, weil diese leichter in anderen Staaten untertauchen könnten.
  • Verdunkelungsgefahr, wenn der begründete Verdacht besteht, dass zum Beispiel Beweismittel vernichtet oder potenzielle Zeuginnen und Zeugen eingeschüchtert werden könnten um deren Aussagen zu verhindern.
  • Wiederholungsgefahr, wenn der Beschuldigte durch seine bisherige strafrechtliche „Karriere“ oder sein Nachtatverhalten Anlass zu der Vermutung gibt, dass er trotz des laufenden Verfahrens nicht zu einem rechtstreuen Verhalten zurückkehren wird und er weiterhin eine Gefahr für andere ist.

So war es wohl auch im Fall des Priesters Hans U., auch wenn der Angeklagte das 72. Lebensjahr schon erreicht hatte.

Gegen ihn wurde schon länger ermittelt. Dann erfolgte die Anklageerhebung, aus dem Beschuldigten wurde ein Angeschuldigter, dann wurde die Anklage zur Hauptverhandlung zugelassen, und er mutierte strafprozessual zum Angeklagten. Wenn – wie im vorliegenden Fall – über einen längeren Zeitraum hinweg, bis hinein in die jüngere Vergangenheit hinein, schwere Straftaten begangen worden sein sollen und wenn selbst trotz Ermittlungen weitere Taten als sehr wahrscheinlich erscheinen, dann liegt die klassische Kombination von dringendem Tatverdacht und Haftgrund vor. Folge: Weitere Ermittlungen plus Aufklärung des Sachverhaltes, Haftbefehl, Verhaftung, U-Haft.

Das die NEU bekannt gewordenen Vorwürfe noch nicht zur Anklage gebracht und verhandelt wurden, ist dabei ohne Bedeutung.

Denn die U-Haft ist nicht eine Art vorab verhängte, präventive Strafhaft, sie dient grundsätzlich nur der Sicherung des Strafverfahrens. Deren Dauer wird allerdings in der Regel auf eine nachfolgend verhängte Strafhaft angerechnet. Und die strafprozessuale Unschuldsvermutung gilt im übrigen unabhängig davon, ob sich ein Beschuldigter in U-Haft befindet oder nicht.

Der Autor ist Kongresspräsident des Berliner Kongresses für Wehrhafte Demokratie. Von 1994 bis 2017 war Wolfgang Bosbach Mitglied des Deutschen Bundestages und dort unter anderem von 2000 bis 2009 stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU Bundestagsfraktion für den Bereich Innen- und Rechtspolitik und von 2009 bis 2015 Vorsitzender des parlamentarischen Innenausschusses.