Bosbach
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Aus aktuellem Anlass: Schweres Verbrechen, dringender Tatverdacht – und trotzdem keine U-Haft?

Im „Fall Leer“ wurde erst nach Beschwerde der Staatsanwaltschaft Untersuchungshaft angeordnet

Die „mutmaßliche Tat“ (muss man aus juristischen Gründen so formulieren) ist erschreckend und das mutmaßliche Opfer wird wohl noch sehr, sehr lange unter den Folgen dieses Ereignisses leiden. Vielleicht sogar ein Leben lang! Ende Juli wurde in Leer (Ostfriesland) eine 19-jährige Schülerin offenbar von drei jungen Männern im Alter von 18, 20 und 21 Jahren geschlagen und mehrfach vergewaltigt. Die mutmaßlichen Täter kommen aus Syrien und dem Irak. Es bestand sofort und besteht immer noch „dringender Tatverdacht“ gegen diese Personen, bei rechtskräftiger Verurteilung drohen langjährige Haftstrafen.

So fürchterlich das mutmaßliche Verbrechen ist, sogenannte Gruppenvergewaltigungen sind in Deutschland leider gar nicht so selten, wie man annehmen könnte. Dem BKA wurden alleine 2020 insgesamt 704 (!) Gruppenvergewaltigungen angezeigt, knapp die Hälfte der Tatverdächtigen/Täter hat keine deutsche Staatsangehörigkeit.

Im „Fall Leer“ hatte das Gericht dennoch gegen die Verdächtigen, trotz des massiven Tatverdachtes, zur Überraschung vieler KEINE U-Haft angeordnet. Wie konnte das sein?

Nein, die U-Haft ist keine vorgezogene Sanktion, keine vorbeugende Strafhaft, sie ist nach unserem Strafprozessrecht eine „verfahrenssichernde Ermittlungsmaßnahme im Rahmen der Ermittlung einer Straftat“. Sie dient der Sicherung des Strafverfahrens, das der Beschuldigte bei weiterem Aufenthalt in Freiheit nicht negativ beeinflussen können soll – und natürlich soll auch sichergestellt werden, dass der Beschuldigte, spätere Angeklagte, zur Hauptverhandlung auch anwesend ist.

Ein Haftgrund ist erforderlich

Der „dringende Tatverdacht“ alleine genügt allerdings für eine U-Haft nicht. Hinzutreten muss ein HaftGRUND, der über den Tatverdacht hinausgeht. Denn selbst für denjenigen Tatverdächtigen, der von der Polizei auf frischer Tat „geschnappt“ wird, gilt prozessual die Unschuldsvermutung. So ist das nun mal in Rechtsstaaten geregelt.

Haftgründe können sein:

  • Fluchtgefahr. Der Beschuldigte könnte sich durch Flucht, wohin auch immer, der Strafverfolgung entziehen. Für nichtdeutsche Beschuldigte kommt hinzu, dass diese aufgrund ihrer ausländischen Staatsangehörigkeit die erleichterte Möglichkeit haben, sich ins Ausland abzusetzen.
  • Verdunkelungsgefahr. In Freiheit könnte der Beschuldigte versuchen Beweismittel zu vernichten, Zeugen zu beeinflussen oder auf andere Weise die Beweisermittlungen zu behindern oder sogar zu vereiteln.
  • Wiederholungsgefahr, die insbesondere bei Wiederholungstätern nicht grundlos vermutet werden kann. Beweisen lässt sich eine solche Gefahr natürlich kaum, jedenfalls dann, wenn der Beschuldigte keine neuen Taten angekündigt hat, aber die polizeiliche Erfahrung mit ihm dürfte ein gewichtiges Argument sein.

Des Weiteren gilt, dass bei besonders schweren Straftaten, zum Beispiel Mord oder Totschlag, die Anforderungen an die Haftgründe geringer sind, als etwa bei (einfachem) Betrug oder Diebstahl.

Eine besonders schwere Straftat

Aber ist eine Gruppenvergewaltigung etwa keine besonders schwere Straftat? Da genügt ein Blick in das Strafgesetzbuch und die Höhe des angedrohten Strafmaßes, um diese Frage mit einem klaren JA zu beantworten.

Dennoch keine U-Haft, obwohl alle drei mutmaßlichen Täter eine ausländische Staatsangehörigkeit haben, Stichwort: Fluchtgefahr?

Diese – zunächst  so ergangene Entscheidung war sehr schwer nachvollziehbar. Proteste, auch öffentlich, ließen nicht lange auf sich warten. Auch die zuständige Staatsanwaltschaft sah diese Entscheidung nicht im Einklang mit unserer Rechtsordnung und legte erfolgreich Beschwerde ein.

Nunmehr sind die Tatverdächtigen doch in U-Haft. Ob sie schuldig sind – das muss erst noch in einem rechtsförmlichen Strafverfahren ermittelt werden.

Der Autor ist Kongresspräsident des GDÖS – Berliner Kongress für wehrhafte Deomkratie. Von 1994 bis 2017 war Wolfgang Bosbach Mitglied des Deutschen Bundestages und dort unter anderem von 2000 bis 2009 stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU Bundestagsfraktion für den Bereich Innen- und Rechtspolitik und von 2009 bis 2015 Vorsitzender des parlamentarischen Innenausschusses.