Mühlbauer

„Zu viele Menschen in Deutschland glauben noch, dass ihnen das Corona-Virus nichts anhaben wird“

Im Interview: Prof. Bernd H. Mühlbauer, Professor für Management im Gesundheitswesen

Wie gut ist Deutschland für das Corona-Virus gerüstet? Woran mangelt es? Wie dramatisch ist die Situation? Und welche Maßnahmen müssen jetzt ergriffen werden? Prof. Bernd H. Mühlbauer redet Klartext.

Prof. Bernd H. Mühlbauer lehrt schwerpunktmäßig „Management im Gesundheitswesen“ an der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen. Sein Fokus liegt auf Organisationsfragen im Gesundheitswesen.

VdZ: Ist Deutschland für Krisen wie das Corona-Virus wirklich gut gerüstet?

Mühlbauer: Oberflächlich betrachtet ist Deutschland gut gerüstet. Wie verfügen beispielsweise über eine große Zahl an Krankenhäusern und Krankenhausbetten. Was uns seit Jahren fehlt, sind Ärzte und Pflegekräfte, teilweise mit spezieller Ausbildung z. B. für die Intensivmedizin. In der Vergangenheit mussten sich schon eine Reihe von Krankenhäusern aus Personalmangel von der Notfallversorgung abmelden und einen Aufnahmestopp verhängen. Derzeit fehlen allein 17.000 Pflegekräfte in Deutschland und diese Lücke ist aktuell durch keine Maßnahme zu schließen. Derzeit besteht das Ziel, die potenziellen Patienten in häuslicher Quarantäne zu versorgen. Wirklich betreut werden sie hier nur durch tägliche Anrufe und durch die Führung eines Tagebuches. Keine Gefahr für die Versorgung besteht für den Fall, dass täglich vereinzelt Corona-Fälle auftreten, die von einzelnen Krankenhäusern im Rahmen ihrer Kapazitäten behandelt werden könnten. Nun stellen wir uns aber einmal den Fall vor, dass ein Mitarbeiter asymptomatisch ist und Krankenhauspatienten oder Patienten und weitere Mitarbeiter in großer Zahl ansteckt. Dann müssen Patienten bzw. Bewohner isoliert werden, vormals Mehrbettzimmer in Einbettzimmer umgerüstet und mit Schleusen versehen werden, was den Aufwand für die Patientenbetreuung erheblich erhöht.

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Nur wenn es gelingt, die Zahl der Erkrankten über die Zeit zu strecken, dann wird das Gesundheits- und Sozialwesen nicht zusammenbrechen.

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 Entscheidend ist die Zahl der täglich auftretenden Corona-Patienten. 30 oder 40 an einem Tag überfordert jedes Krankenhaus, Patienten müssen auf mehrere Häuser verteilt werden, deren Aufnahmekapazität weiter sinkt. Andere geplante Operationen und Versorgungen müssen verschoben werden, damit anstelle dieser Patienten Corona-Infizierte aufgenommen werden können. Nur wenn es gelingt, die Zahl der Erkrankten über die Zeit zu strecken, dann wird das Gesundheits- und Sozialwesen nicht zusammenbrechen. Deshalb verstärkt der Bundesgesundheitsminister auch seine Bemühungen, die Bevölkerung zu ermahnen, die alltäglichen Hygiene-Regeln einzuhalten.

VdZ: In verschiedenen Ländern, auch innerhalb Europas, treffen die Behörden sehr unterschiedlich ausgeprägte Vorkehrungen. Wie sollten sich die Behörden realistischerweise, ggf. auch für den Worst Case, vorbereiten?

Mühlbauer: Zunächst einmal sind alle Akteure im Gesundheits- und Sozialwesen aufgefordert, ihre Pandemie-Pläne zu überarbeiten. Krisenstäbe werden gebildet und müssen ein funktionierendes System zwischen Rettungsdiensten, der Aufnahme und der Behandlung von Corona-Patienten sichern. Die Ablaufprozesse sind darauf einzustellen, Zentrale Notaufnahme speziell aufzustellen, Patienten von Intensivstationen möglichst früh auf die Stationen zu verlegen und für die Isolation von Patienten umzurüsten. Dazu zählt auch die Einrichtung einer ganzen Infektionsstation, sofern dafür wieder die Zahl der Mitarbeiter ausreicht. Im nationalen Pandemieplan von 2017 steht, dass vielleicht Auszubildende der Pflege oder Medizinstudierende der letzten Semester für die Versorgung der Patienten eingesetzt werden können. Dies war u. a. der Grund, warum der Gesundheitsminister die Pflegepersonalmindestverordnung ausgesetzt hat. Jetzt können auch solche Mitarbeiter in der Pflege von Corona-Patienten eingesetzt werden. Hoffentlich verfügen die Krankenhäuser und Pflegeinrichtungen noch über genügend Material, das sie für die Versorgung der Patienten und Bewohner benötigen. Schutzmasken und Desinfektionsmittel sind knapp, eine Million Schutzmasken, die Behörden, wie das Gesundheitsministerium in NRW geordert hat, reichen nur für wenige Wochen. Medikamente werden knapp, weil die Produktion in China und Indien nicht mehr stattfindet und Arzneimittel nicht mehr ausgeführt werden.

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Die Vorratshaltung eines jeden Krankenhauses entscheidet nun über die Versorgungssicherheit im Zweifelsfall.

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Die Vorratshaltung eines jeden Krankenhauses entscheidet nun über die Versorgungssicherheit im Zweifelsfall. Ich halte den staatlichen Ankauf für notwendige Materialien für eine grundsätzlich gute Maßnahme, die allerdings nur symptomatisch wirkt. Die Behörden müssen m. E. von Haus zu Haus gehen und die Bewohner über die richtigen Verhaltensweisen aufklären. Zu viele Menschen in Deutschland glauben noch, dass ihnen das Corona-Virus nichts anhaben wird. Öffentliche Veranstaltungen sind konsequent abzusagen, weil im Eingangsbereich nicht hinreichend auf eine Infektion kontrolliert werden kann. Überall sind – sofern vorhanden – Desinfektionsmittelspender aufzustellen oder Waschmöglichkeiten einzurichten, damit sich Kunden von Supermärkten beim Betreten des Geschäftes die Hände waschen können. Dies ist auch für die öffentliche Verwaltung so einzurichten. Alle Arbeitsplätze sind auf Home-Office-Fähigkeit zu überprüfen und Mitarbeiter konsequent nach Hause zu schicken.

VdZ: Man hört inzwischen Aufrufe von Apothekern, Ärzten oder auch chronisch Kranken, die sich über fehlende Desinfektionsmittel, Atemschutzmasken oder Schutzkleidung beschweren. Auch erste Medikamente werden zur Mangelware. Wie können wir dieses Problem lösen? Durch Beschlagnahmungen wie in Frankreich?

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Im Notfall geht es nur über eine Beschlagnahme der Vorräte. 

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Mühlbauer: Diese Frage habe ich bereits beantwortet. Im Notfall geht es nur über eine Beschlagnahme der Vorräte und eine bessere Zusammenarbeit mit den Herstellern, die für Atemmasken beispielsweise auch in Europa produzieren.

VdZ: Zahlreiche Produkte oder Vorprodukte kommen aus China. Viele Lieferketten sind unterbrochen. Wird sich das Problem in den nächsten Wochen noch verschärfen?

Mühlbauer: Ja, das Problem wird sich noch verschärfen. Wir lassen eine große Zahl an Arzneimitteln in Asien produzieren, weil dort die Produktionskosten so niedrig sind. Jetzt fallen diese Lieferquellen, möglicherweise bald auch Transportwege aus. Die weltweite Nachfrage zieht derzeit rasant an, so dass wir hier ein transnationales Verteilungsproblem haben, was wahrscheinlich über höhere Preise, die ein Land bereit ist zu zahlen, entschieden wird, sofern ein Land oder Unternehmen überhaupt lieferfähig sind.

VdZ: Wenn Verdachtspatienten nicht in Arztpraxen gelassen, sondern unter häusliche Quarantäne gestellt werden, wie ist dann deren medizinische Behandlung, aber auch die Versorgung mit Lebensmitteln etc. gesichert?

Mühlbauer: Nur durch eine Nachbarschaftshilfe oder Initiativen der Supermärkte. Sie könnten beispielsweise eine Internet-Bestellung von Corona-Patienten bekommen, die dann durch einen Mitarbeiter des Supermarktes ausgeliefert würde. Die medizinische Behandlung kann – sofern notwendig – nur in der Arztpraxis oder im Krankenhaus erfolgen. Manche Ärzte schauen sich potenziell Erkrankte bereits auf dem Parkplatz vor ihrer Praxis an, schicken sie dann wieder nach Hause und machen später einen Hausbesuch. Dies ist ohne Schutzkleidung allerding hoch risikoreich. Mancher niedergelassener Arzt hat sich auf diese Weise selbst infiziert!