Twitter
© Mohamed_hassan

Brasilien vs. X: Der Maschinensturm der Juristen

Netzsperren und ihre Konsequenzen

Der Fall Brasilien vs. X wirft ein beunruhigendes Licht auf die eskalierenden Spannungen zwischen nationaler Gesetzgebung und globalen Internetplattformen. Besonders auffällig ist dabei der Versuch der brasilianischen Justiz, durch Netzsperren den Zugriff auf X zu unterbinden. Doch was bedeutet eine Netzsperre eigentlich genau und welche weitreichenden Folgen kann sie haben? In diesem Artikel beleuchten wir, wie Netzsperren technisch funktionieren und welche Konsequenzen solche Maßnahmen für ein Land wie Brasilien mit sich bringen können.

Es eskaliert gerade der Konflikt zwischen der brasilianischen Justiz und X (vormals Twitter) bzw. Elon Musk. X ignorierte offenbar gerichtliche Anweisungen, Tweets bzw. ganze Accounts zu entfernen, woraufhin Bundesrichter de Moraes die Sperre von X in Brasilien anordnete. Die Nutzung von X in Brasilien steht ab sofort unter massiven Strafandrohungen. Diese wurde vom obersten Gerichtshof des Landes bestätigt. Dieser Artikel behandelt nicht die inhaltlichen Themen dieses Streits, sondern zeigt anhand dieses Beispiels, was eine “Netzsperre” bedeutet, was sie auslösen kann und welche Konsequenzen eine solche Sperre hat – auch und gerade für Brasilien selbst.

Im einfachsten Fall wird eine Netzsperre über den Domain Name Server (DNS) des Internetproviders (ISP) realisiert. Die Eingabe “x.com” in die Befehlszeile des Browsers ist für das Routing im Internet unbrauchbar, dafür wird eine IP-Adresse benötigt. Üblicherweise stellt der ISP einen DNS zur Verfügung, dessen IP-Adresse in die Konfiguration des Internetanschlusses eingetragen wird. Der Browser bzw. die darunter liegende Internetverbindung frägt nun den eingetragenen DNS an; dies geschieht nicht über den normalen Internetverkehr (meist über Ports 80 oder 443), sondern über eine eigene Art von Verbindung (Port 53). Der DNS löst dann “x.com” in eine IP-Adresse auf, hier 104.244.42.193 (siehe dazu Abbildung 1 am Ende des Artikels). Diese IP-Adresse ist für das Routing der Nachrichten zwischen Nutzer und x.com relevant. Eine Netzsperre wird realisiert indem die Internetprovider eines Landes den Auftrag erhalten “x.com” nicht mehr gegen eine IP-Adresse aufzulösen, sondern die Anfrage auf eine eigene Sperrseite, beispielsweise mit Informationen des brasilianischen Gerichts, umzuleiten.

Wählen in München – Eine Gefährdung der Demokratie?
Wahlen ohne Identitätsnachweis

Wählen in München – Eine Gefährdung der Demokratie?

Wie man ohne Identitätsnachweis problemlos wählen kann

Diese “Netzsperre” ist denkbar einfach zu umgehen. So kann etwa ein im Ausland befindlicher DNS in die lokale Internetkonfiguration eingetragen werden. Ein Beispiel wäre 8.8.8.8, der DNS von Google. Dieser löst, die nationalen Netzsperre ignorierend, “x.com” nach wie vor in 104.244.42.193 auf, worauf der Server von X erreicht werden kann. Dies kann nur unterbunden werden, indem eine “nationale Firewall” errichtet wird, die DNS-Anfragen (über Port 53 einfach zu erkennen) ins Ausland nicht mehr durchgelassen oder die Anfragen an einen Fake DNS im Inland umgeleitet werden, ein Beispiel dafür ist die Great Firewall der VR China (GFC). Es folgt die nächste Eskalationsstufe.

Der Nutzer kann sich im Ausland in einen Virtual Private Network (VPN)-Server einmieten. Der Nutzer surft dann über dieses VPN, das den Verkehr an den Nutzer über eine verschlüsselte Verbindung (einen “Tunnel”) weitergibt. Die nationale Behörde hat keine Möglichkeit in den Tunnel hineinzusehen, um festzustellen, ob über diesen Tunnel x.com verwendet wird. Die Anordnung von Bundesrichter de Moraes stellt auch diese Nutzungsform von X unter Strafe – die Frage ist wie dies durchgesetzt werden soll. Lediglich eine nationale Firewall wie die GFC kann jeden VPN-Tunnel ins Ausland erkennen und unterbinden. Ausnahmen gibt es nur, wenn etwa der Schlüssel für das VPN hinterlegt oder sonst eine Sondergenehmigung erwirkt wird. Die GFC kennt auch das künstliche Verlangsamen der VPN-Verbindung oder einen erzwungenen Verbindungsabbruch, wenn ein VPN erkannt wird. Brasilien kann das Verbot, X über VPN zu nutzen, nur mit derartigen Mitteln durchsetzen. Damit aber hätte Brasilien dann das Niveau von Polizeistaaten wie der VR China oder dem Iran erreicht, um die Sperre von x.com durchzusetzen.

Eine der technischen Entwicklungen der letzten Jahre ist satellitenbasiertes Internet, wie es von Starlink angeboten wird. Dabei werden mittels Endgeräten Internetverbindungen zu Satelliten aufgebaut, was die Nutzung von Internet ohne jegliche nationale Infrastruktur (Kabel oder Mobilfunk) ermöglicht. Die Innovation bei Starlink sind Preis und Leistung des Systems. Die Angebote beginnen bei 50 € pro Monat für unbegrenztes Volumen bei realen 60 bis 100 Mbit/s. Im Mai 2024 vermeldete Starlink drei Millionen Kunden, davon 250.000 in Brasilien. Das Bodensegment besteht typischerweise aus einer Phased Array Antenne, die die Kommunikation mit den Satelliten bewerkstelligt, und einem WLAN-Router für den Anschluss der Endgeräte. Die Kosten dafür betragen je nach Ausführung einmalig einige Hundert Euro. Per August 2024 befinden sich 6.290 operationale Starlink-Satelliten im Orbit, die Ausbaupläne gehen bis 42.000 Satelliten.

Die Verwaltung im Spiegel der Windschutzscheibe: Nicht genügend digitalisiert
Windschutzscheibe

Die Verwaltung im Spiegel der Windschutzscheibe: Nicht genügend digitalisiert

Was die Windschutzscheibe Ihres Autos über die deutsche Verwaltung aussagt

Ein Service wie Starlink hat zwei erhebliche Konsequenzen:

  1. Zunächst entzieht sich damit der Internetzugang jeglicher nationalen technischen Kontrolle. Nationale Firewalls, wie etwa die GFC, werden damit obsolet. So spielten ins Land geschmuggelte Starlink-Satellitenempfänger eine wesentliche Rolle bei den Bürgerprotesten im Iran 2022, obwohl das Satellitennetzwerk noch wenig ausgebaut war. Ein Stören der Satellitenverbindung scheint nur schwer möglich zu sein. Auch bei der Effektivität der ukrainischen Artillerie gegen den russischen Aggressionskrieg hatte Starlink einen bedeutenden Einfluss und das trotz massiver russischer Störversuche. Die US-Regierung hat mittlerweile Starshield beauftragt, das militärische Gegenstück zu Starlink. Mit Starlink kann jedenfalls die Informationskontrolle durch autoritäre Regimes technisch ausgehebelt werden. Die Antwort eines solchen Regimes kann nur ein Verbot mit entsprechenden Strafen, Grenzkontrollen gegen Schmuggel der Bodensegmente und die Verfolgung von Starlinknutzern sein.
  2. Für Gemeinden in abgelegenen Gebieten ist Starlink eine einfache und kostengünstige Weise, Internet und damit Bildungs- und Geschäftsmöglichkeiten auch in abgelegene Dörfer zu bringen. Laut Auskunft von Starlink nutzen in Brasilien 19.000 Schulen im ländlichen Raum Starlink. Dies bringt uns zurück zu Brasilien vs. X.

Starlink ist eine Tochtergesellschaft von SpaceX, dessen Gründer, bestimmender Aktionär, CEO und CTO Elon Musk ist. Erwartungsgemäß weigert sich Starlink die Sperre von X in Brasilien zu implementieren (Anmerkung: laut Presseberichten Stand 4.9.2024, soll Starlink sehr wohl bereit sein, X zu sperren). Was wären nun im Falle einer Weigerung die Optionen Brasiliens?

  1. Es kann Starlink verbieten, was bedeutet, dass Tausende Schulen im Amazonasbecken offline sind – eine klassische Selbstbeschädigung. Darüber hinaus müssten Grenzkontrollen eingeführt werden, um den Schmuggel von Starlink-Bodensegmenten zu unterbinden und wie im Iran Jagd auf Starlinknutzer gemacht werden. Die Binnengrenze Brasiliens ist 16.145 Kilometer lang und verläuft größtenteils durch Urwälder, dazu kommen 7.491 Kilometer Meeresküste. Dass Brasilien die technischen Möglichkeiten der Störung (Jamming) von Starlink hat, kann angesichts der technischen Schwierigkeiten Russlands damit ausgeschlossen werden.
  2. Es kann Starlink nicht verbieten, jedoch die Nutzung von X über Starlink (wie auch über VPN-Tunnel) unter Strafe stellen. Wie dies kontrolliert werden soll, erschließt sich nicht.
»

Wer in die Internetzensur (Netzsperren) einsteigt, muss sich des Eskalationspotenzials solcher Sperren bewusst sein.

«

Die Causa Brasilien vs. X ist ein Lehrstück: wer in die Internetzensur (Netzsperren) einsteigt, muss sich des Eskalationspotenzials solcher Sperren bewusst sein. Sehr schnell stellt sich dann nämlich die Frage, ob man als Staat aufgibt und zurücksteckt, oder die Sache “durchzieht”. Bzw. es versucht, denn es ist letztendlich sinnlos – wenn man kein vollkommen abgeschotteter, isolierter Überwachungsstaat sein möchte, der jeglichen Internetverkehr ins Ausland verbietet oder überwacht. Die Konsequenzen zeichnen sich bereits ab. Bill Ackman, CEO von Pershing Square Capital Management, äußerte sich bereits dahingehend, dass Brasilien so für Investitionen nicht mehr tragbar sei.

Die Regierung Brasiliens begrüßt ausdrücklich die Entscheidung von Bundesrichter de Moraes und begründet dies mit einem “Eingriff in die nationale Souveränität” durch X (vollkommen analog zur Rechtfertigung der GFC durch die VR China). Aber ist dies der Fall? Im Folgenden wollen wir die grundsätzlichen Schwierigkeiten nationaler Souveränität und der anwendbaren Rechtsordnung in solchen Fällen aufzeigen.

Ein erstes Problem ist die anwendbare Rechtsordnung. Nehmen wir an, ein Social Media-Nutzer in den Vereinigten Staaten äußert sich – in Portugiesisch – massiv abwertend über einen brasilianischen Politiker. Dieser wendet sich an Richter de Moraes, woraufhin dieser die Löschung des Eintrages anordnet. Der amerikanische Nutzer hingegen beruft sich auf seine First-Amendment Rights (freedom of expression). Was also soll der Social Media-Betreiber tun? Löscht es den Eintrag, verletzt es die verfassungsmäßigen Rechte des US-Bürgers und macht sich innerstaatlich schadensersatzpflichtig. Löscht es den Eintrag nicht, wird Richter de Moraes ein Bußgeld verhängen, bei dessen Nichtbezahlung eine Sperre droht. Ein für den Betreiber unlösbares Problem. Ähnlich verhält es sich mit konkurrierenden Urteilen von Gerichten unterschiedlicher Staaten, beispielsweise eines indischen und eines pakistanischen Gerichts zu Äußerungen in der Kaschmirfrage.

Es gibt 193 Staaten auf der Welt, damit wäre jeder Betreiber eines Internetservices 193 verschiedenen, sicherlich widersprüchlichen Rechtsordnungen und Gerichten unterworfen. Dass dies völlig absurd ist – auch wenn genau diese Absurdität z. B. im deutschen NetzDG bis Mai 2024 vorgeschrieben war – zeigt eine einfache Analogie. Sendet z. B. ein französischer Radiosender aus Strasbourg, würde nie ein Jurist oder Politiker auf den Gedanken kommen, dem Radiosender deutsches Recht vorzuschreiben und ihn deutschen Gerichten zu unterwerfen. Denn das Recht kann sich nur nach dem Ort des Senders richten, in diesem Fall Frankreich. Auch X ist sozusagen ein Radiosender, der aus den USA sendet. Es steht dem Staat – hier Brasilien – frei, ihn auf seinem Staatsgebiet nicht empfangbar zu machen. Nicht mehr. Und diese Grenze hat Richter de Moraes überschritten und das brasilianische Oberste Gericht mit ihm.

Nationale Gesetzgebung und Rechtsprechung stellt bei 193 Staaten im Internet ein immer größer werdendes Problem dar. Netzsperren sind technisch einfach zu umgehen, Straf- oder zivilrechtliche Verfolgung schwierig bis unmöglich, der Zugriff eines nationalen Gerichts auf einen Diensteanbieter in einem Drittland ist faktisch unmöglich. Dazu kommen völlig unterschiedliche Rechtstraditionen und Verfassungen. Eine Lösung für solche Probleme wäre eine internationale Vereinbarung wie z. B. der Weltpostverein. Allerdings scheint diese in absehbarer Zeit nicht umsetzbar, ja nicht einmal denkbar zu sein.

Abb. 1