S-Bahn Berlin Impfzug
© S-Bahn Berlin / Kathrin Fiehn

Wie die Verkehrsverbünde in Deutschland 3G im ÖPNV verunmöglichen und warum Deutschland so hohe Ticketpreise hat

Das Ticketing im deutschen ÖPNV ist weder zeitgemäß noch zukunftsfähig

Im Zuge der jüngsten Ministerpräsidentenkonferenz mit der geschäftsführenden Bundeskanzlerin wurde beschlossen, dass ab 24. November 2021 nur noch geimpfte, genesene oder getestete Personen (3G) im ÖPNV fahren dürfen. Etliche Verkehrsverbünde und -unternehmen haben sofort klargestellt, dass sie das nicht effektiv kontrollieren können. Welche Voraussetzungen fehlen dafür? Wie machen es andere europäische Städte? Die Lösung liegt in intelligenten elektronischen Ticketsystemen, schreibt Robert Müller-Török, Professor für Information Management und E-Government an der Hochschule für öffentliche Verwaltung und Finanzen Ludwigsburg.

Reaktionen auf 3G im ÖPNV in Deutschland 

  • MVG München: „Grundsätzlich gilt, dass in einem offenen Verkehrssystem mit täglich vielen Zehntausenden Fahrgästen keine lückenlosen Kontrollen stattfinden können. Gerade im Nahverkehr mit häufigem Fahrgastwechsel und Haltestellen in kurzen Abständen ist dies, wenn überhaupt, nur stichprobenartig möglich“ sowie „Die MVG sieht hier vor allem auch die Polizei in der Verantwortung“.
  • Stadtwerke Ulm/Neu-Ulm: „Bei 3G können wir die Kontrolle nicht übernehmen.“
  • Rheinbahn Düsseldorf: „Das Unternehmen kündigte an, die neuen Regelungen in ihren Bussen und Bahnen stichprobenartig kontrollieren zu wollen. Das Verkehrsunternehmen rechnet mit hohen Kosten für den zusätzlichen Aufwand.“

The Basics: Wie kann man das lückenlos kontrollieren?

Das Problem der Kontrolle ist es, dass jeder Fahrgast über einen fälschungssicheren Impfnachweis, Genesenennachweis oder Test verfügen muss, der

  1. sicher an die Person gebunden ist, das heißt nicht von Dritten verwendet werden kann
  2. elektronisch automatisiert überprüft werden kann, da sich bei zum Beispiel 1,5 bis 2 Millionen Fahrgästen bei der MVG pro Tag eine papierbasierte Kontrolle verbietet
  3. fälschungssicher ist.

Die Parallele zur Überprüfung der Tickets drängt sich auf. Auch hier verbietet sich faktisch eine papierbasierte und stichprobenbasierte Kontrolle – dennoch wird sie in Deutschland durchgeführt, allein bei der Rheinbahn Düsseldorf sind hier 120 Mitarbeiter beschäftigt und in ganz Deutschland wohl mehrere Tausend.

Verkehrsverbünde und -unternehmen mit intelligenten Ticketsystemen

Es gibt in Europa Städte, in denen es eine lückenlose und elektronische Ticketkontrolle gibt, so beispielsweise

Es wäre nun problemlos möglich, auf den entsprechenden Chipkarten eine weitere Funktion aufzunehmen, die neben der Gültigkeit des zugrundeliegenden Tickets auch noch einen Impf-, Genesenen- oder Testnachweis dokumentiert. Diesen können autorisierte Stellen auf die Karte aufspielen, beispielsweise durch entsprechend organisierte Gesundheitsbehörden oder aber aus einer zentralen Datenbank abfragen. Man muss hier unterscheiden zwischen

  • Tickets mit Personenbindung, wie Jahreskarten und dergleichen – hier ist es problemlos möglich
  • Tickets ohne Personenbindung; hier muss der Nachweis separat erbracht werden, etwa durch eine Kontrolle beim Verkauf des Tickets durch eine Kombination aus Kreditkarte und Scan des zum Beispiel EU-genormten Impfnachweises oder beim Verkäufer. Das ist schwieriger, aber prinzipiell machbar. Und ein Incentive, auf personengebundene Zeitkarten umzusteigen.

Kontrolle von Fahrausweis und Impfstatus

Die Kontrolle der Fahrausweise – und damit auch der damit verbundenen 3G-Nachweise – geschieht, etwa in London, wie folgt:

  1. Beim Eingang in eine U-Bahnstation und beim Ausgang wird eine mechanische Absperrung geöffnet, indem die Chipkarte darangehalten wird.
  2. In Bussen und gegebenenfalls Straßenbahnen wird beim Einsteigen die Karte an ein Lesegerät gehalten, ein akustisches oder optisches Signal informiert den Fahrer, falls die Karte nicht gültig ist.

Somit erfolgt eine lückenlose, 100-prozentige Überprüfung der Fahrscheine. In den Städten, die solche Systeme eingeführt haben.

Das „Abfallprodukt“: Echte und belastbare Fahrgastzahlen als Planungsgrundlage für die Verkehrsplanung

„Alle Jahre wieder“ – beziehungsweise je nach Verkehrsverbund auch in erheblich größeren Abständen – erfolgt eine sogenannte Fahrgastzählung. So werden im Verkehrs- und Tarifverbund Stuttgart (VVS) für den Zeitraum 20.09.26.11.2021 50 Fahrgastzähler*innen gesucht, die folgende Aufgaben erfüllen sollen:

  • Mitfahren in Bussen und Bahnen
  • Auf manchen Linien die Anzahl der Fahrgäste zählen
  • Auf anderen Linien Einsteiger/Aussteiger zählen.

Der statistische Wert beziehungsweise die Aussagekraft einer solchen Zählung ist äußerst beschränkt. Auch ein Stundenlohn von brutto 13,50 Euro scheint kein Incentive für eine hohe Datenerfassungsqualität zu sein und ist keinesfalls mit einer lückenlosen Erfassung vergleichbar. Auch automatisierte Zählsysteme haben ihre Mängel, da sie beispielsweise

  • nicht zwischen Fahrgastgruppen wie Senioren, Schüler, Schwarzfahrer etc. differenzieren können
  • rein summarische Zählungen machen. Beispiel: Wenn eine Person an der Haltestelle A einsteigt, können Zählsysteme nicht sagen, an welcher der nachfolgenden Haltestellen BZ diese Person ausgestiegen ist. Die tatsächlich gefahrene Strecke in Fahrgastkilometer kann somit nicht abgeleitet werden.

Die Benutzung dieser so äußerst aufwändig, lückenhaft und manuell erhobenen Zahlen als Planungsgrundlage für die Verkehrsplanung ist ebenfalls suboptimal, denn eine belastbare und konkrete Aussage über die ganzjährige Auslastung einer U-Bahn- oder Buslinie ist so nicht ableitbar. Während Transport for London genau weiß, wer an welcher U-Bahnstation ein- und ausgestiegen ist und eine große Menge weiterer Daten über den Betrieb hat, tappen deutsche Verkehrsverbünde im Dunkeln. Wenn nicht gerade zufällig eine Fahrgastzähler*in des VVS am 22.11.2021 am Charlottenplatz in Stuttgart war, wird der VVS nie erfahren, wie viele Menschen dort heute um-, ein- oder ausgestiegen sind. Und falls doch, dann war er oder sie sicherlich nicht von Betriebsbeginn bis Betriebsschluss dort.

Die 2021 eingeführte neue Funktion der VVS App, mit der Fahrgäste die Auslastung der Busse und Bahnen melden können, belegt, dass die VVS selbst über diese Informationen nicht verfügt.

Entkoppelung von Leistung und Finanzierung im ÖPNV

Die Unkenntnis über die tatsächlich erbrachte Transportleistung muss zwangsläufig zu einer völligen Entkoppelung von Leistungserbringung und -zahlung führen. Da nicht für die – unbekannte! – Leistung in Fahrgastkilometern bezahlt werden kann, müssen andere Mechanismen greifen. Schätzungen, Alimentationen und die Abrechnung von Linienkilometern, unabhängig von der Anzahl der tatsächlich transportierten Fahrgäste. Das heißt auch Fahrten mit leeren Bussen und U-Bahnen werden voll abgegolten. So kann zum Beispiel für ein Bayernticket, gelöst am Münchner Flughafen an einem Automaten der MVG, nie festgestellt werden, wer die Transportleistung erbracht hat. Der Ticketinhaber kann mit dem Ticket S-Bahn (Deutsche Bahn), U-Bahn (MVG) oder aber auch nach Landshut und dort mit den Bussen der Landshuter Stadtwerke gefahren sein. Somit bleibt nur eine Lösung: Das ganze Geld für das Bayernticket verbleibt beim Verkäufer, hier dem Automatenbetreiber MVG.

Dies führt zu einer wesentlichen Entwicklung: Der ÖPNV in Deutschland wird immer teurer, da das Entgelt unabhängig von der tatsächlich erbrachten und in Anspruch genommenen Leistung ist. Die Tabelle 1 auf Seite 245 in einem aktuellen Gutachten des Verkehrsministeriums Baden-Württemberg veranschaulicht dies. So sind Jahreskarten bei Einmalzahlung in Brüssel, Budapest, Mailand, Wien und Zürich erheblich billiger als in Deutschland, teilweise sogar nur halb so teuer.

Fazit: Das Ticketing muss umgestaltet werden

Die gegenwärtige Pandemie ist ein Lackmustest für das e-Government. Staaten, die digital gut verwaltet werden, haben es nicht nur bei Impfkampagnen leichter, sondern auch bei der Kontrolle von 3G im ÖPNV. Während die 3G-Kontrolle in Deutschland, wie die Verkehrsverbünde und -unternehmen ehrlich eingestehen, nicht durchführbar ist, ist sie woanders zumindest technisch durchführbar. Darüber hinaus muss, wenn die Klimawende im Verkehr ernstgemeint ist, eine Abhängigkeit zwischen erbrachter Transportleistung und -entgelt etabliert werden. Ansonsten werden, wie in der Vergangenheit, die Kosten weiter steigen und 1:1 auf den Steuerzahler und die Ticketpreise umgelegt werden. Ohne jedes Korrektiv.

Nehmen Sie Kontakt zum Autor/zur Autorin auf

Sie haben Interesse an einem Erfahrungsaustausch oder weiteren Informationen? Ihr Feedback und Ihre Fragen leiten wir direkt an den Verfasser / die Verfasserin des Textes weiter.