Brigitte Zypries DJS 2024
© Wegweiser / Simone M. Neumann

Justizdigitalisierung: Es wird mehr projektiert als praktiziert

Brigitte Zypries im Interview

Die Jus­tiz­di­gi­ta­li­sie­rung ist ein dif­fu­ser Pro­zess, bei dem dy­na­mi­sche Ent­wick­lung und stän­di­ge Sta­gna­ti­on gleich­sam Hand in Hand zu gehen schei­nen. Im­mer­hin ist ein Be­mü­hen um Fort­schritt er­kenn­bar, das sich in vie­len Ver­an­stal­tun­gen zum Thema zeigt. Eine davon ist der 4. Di­gi­tal Ju­sti­ce Sum­mit, der Ende No­vem­ber in Ber­lin statt­fin­det. Wir haben mit der Kon­gress­prä­si­den­tin, Bun­des­jus­tiz­mi­nis­te­rin a.D. Bri­git­te Zy­pries, über den ak­tu­el­len Stand der Jus­tiz­di­gi­ta­li­sie­rung ge­spro­chen.

Tobias Freudenberg NJW: Wo steht die Justizdigitalisierung auf einer Skala von 1 bis 10?

Brigitte Zypries: Ich würde sie bei 3 einordnen.

Freudenberg: Unser Eindruck ist: In Bund und Ländern wird viel entwickelt und erprobt, projektiert und pilotiert. Flächendeckend im Einsatz ist hingegen noch sehr wenig. Wie sehen Sie das?

Zypries: Ganz genauso. Das liegt daran, dass die Herausforderungen der Justizdigitalisierung nicht monokausal sind, sondern komplex und alle Ebenen von Technik, Personal, Gesetzgebung und Governance betreffen. Ohne gemeinsame Standards, stärkere Zentralisierung und gezielte Ressourcenaufstockung wird die flächendeckende digitale Justiz weiterhin auf sich warten lassen.

Freudenberg: Jetzt soll sogar die Einführung der E-Akte um ein Jahr verschoben werden. Jedenfalls sollen die Länder die Option bekommen, die verpflichtende Einführung vom 1.1.2026 auf den 1.1.2027 zu vertagen. Das hat sogar der Deutsche Richterbund kritisiert. Wie konnte es so weit kommen, dass hier ein Aufschub nötig wurde?

Zypries: Die aktuelle Verschiebung der verpflichtenden Einführung der E-Akte auf Wunsch mehrerer Länder ist ein Symptom dieser strukturellen Probleme. Den Zeitverzug gibt es bei der Softwareentwicklung und deren Implementierung, diese wiederum beruht auf mangelnder personeller und technischer Ressource sowie der uneinheitlichen, zersplitterten IT-Landschaft und fehlenden Standards zwischen Ländern und Bund.

Freudenberg: Der Richterbund sieht die zersplitterte IT-Landschaft als Kernproblem. Ist sie das tatsächlich?

Zypries: Ja, die zersplitterte IT-Landschaft gilt als ein Grundproblem. Unterschiedliche Systeme und Prozesse der Länder erschweren nicht nur die Skalierung, sondern führen zu Schnittstellenproblemen, Sicherheitslücken und Medienbrüchen.

Freudenberg: Die defizitären Ressourcen haben Sie schon angesprochen, kommen auch noch fehlende Kompetenzen und/oder mangelndem Willen hinzu?

Zypries: Die Ressourcen sind in der Justiz ja schon lange notleidend. Deshalb ist es gut, dass der „Pakt für den Rechtsstaat“ von Bund und Ländern neu aufgelegt wurde. Er basiert auf drei Säulen: Verbesserung der Digitalisierung der Justiz, Beschleunigung und Vereinfachung von Verfahren, personelle Verstärkung von Gerichten und Staatsanwaltschaften. Bundesjustizministerin Dr. Stefanie Hubig hatte bis Herbst 2025 die Bereitstellung von 450 bis 500 Mio. Euro Bundesmittel angekündigt. Das verzögert sich, derzeit wird die Ministerpräsidentenkonferenz im Dezember anvisiert für den endgültigen Beschluss.  Mangelnden Willen will ich keiner Ministerin und keinem Minister unterstellen, aber mir scheint auch, dass keiner das Thema ganz oben auf der Agenda hat.

Freudenberg: Nach der Ursachenanalyse stellt sich die Frage, wie es weiter geht. Für wie realistisch halten Sie denn eine föderal tragfähige, interoperable Infrastruktur für einen medienbruchfreien Rechtsverkehr?

Zypries: Eine föderal tragfähige, interoperable Infrastruktur für den medienbruchfreien Rechtsverkehr ist sehr ambitioniert, angesichts der gewachsenen heterogenen IT-Landschaften. Sie ist deshalb allenfalls langfristig realistisch. Was man jetzt schon machen kann: Gemeinsame Standards für den Datenaustausch, zentral gemanagte Plattformen und Referenzarchitekturen – deshalb ist die Justizcloud auch so wichtig, über deren Vergabe noch immer nicht entschieden ist – sowie natürlich Investitionen in Personal und technische Ausstattung.

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Freudenberg: Was braucht es, damit Innovationen wie etwa die zahlreichen entwickelten KI-Tools zur Bewältigung von Massenverfahren schnell ins System kommen?

Zypries: In der Tat gab und gibt es zahlreiche Pilotprojektewie zum Beispiel Olga und Frauke. Für die Ausrollung der Pilotprojekte wäre es gut, klare Prozesswege zu definieren und die Projekte länderübergreifend zur Implementierung anzubieten. Des Weiteren bedarf es der Anpassung gesetzlicher Rahmenbedingungen (z.B. Beweisrecht, KI-Einsatz im Zivilverfahren).

Freudenberg: Aus der Justizpraxis hört man häufig, dass es schon an der einfachsten Ausstattung fehlt. Was sind nach Ihrer Wahrnehmung zentrale Pain Points bei der Justizdigitalisierung?

Zypries: Das ist natürlich unterschiedlich von Land zu Land und Gericht zu Gericht, aber generell kann man sicher sagen, dass veraltete Hard- und Software ebenso der Grund sind wie Medienbrüche durch inkompatible Systeme und Papieranteile sowie eine mangelnde Akzeptanz und Umsetzungsbereitschaft auf Ebenen der Verwaltung und Justiz.

Freudenberg: Wie bewerten Sie den rechtlichen Rahmen der Justizdigitalisierung, insb. ZPO und StPO? Konkreter: Welche Reformen sind hier im Hinblick auf eine Verfahrensmodernisierung dringlich?

Zypries: Viele Fachleute fordern Reformen der ZPO und StPO für eine konsequente Digitalisierung, zum Beispiel Asynchronisierung der Kommunikation, vermehrter Einsatz von KI-gestützten Tools, weitere Öffnung für digitale Verfahren und einheitliche Register zur digitalen Vollstreckung. Die Zivilprozess-Kommission sieht gerade in der Modernisierung der Verfahrensgrundsätze und schnelleren, digitaleren Bearbeitung großes Potenzial.

Freudenberg: Sind der Datenschutz und regulatorische Anforderungen etwa durch die KI-Verordnung Hemmschuhe für die Justizdigitalisierung?

Zypries: Die KI-Verordnung bringt zusätzliche Anforderungen, deren Umsetzung aktuell noch unsicher ist, insbesondere im Hinblick auf die Risikoklassifizierung und Zulassung von KI-Systemen in der Justiz. Aber selbstverständlich braucht es gerade bei justiziellen Verfahren gesicherte Daten, da darf es keine Abstriche geben, sonst schwindet die Akzeptanz in der Bevölkerung.

Freudenberg: Sie sind die Kongresspräsidentin des 4. Digital Justice Summit, der am 24. und 25.11.2025 in Berlin stattfindet. In dieser Funktion sprechen Sie dort unter anderem auch mit Bundesjustizministerin Stefanie Hubig und dem bayerischen Justizminister Georg Eisenreich. Was werden Sie mit ihnen besprechen?

Zypries: Alle die Themen, die in den obigen Fragen und Antworten enthalten sind.

Originalartikel auf beck-aktuell

Tobias Freudenberg beim 4. Digital Justice Summit

🗓️ 24.-25. November, Hotel de Rome Berlin
➡️ Hier geht's zum Programm

Tobias Freudenberg übernimmt die Gesprächsleitung beim Best-Practice-Dialog II.A3 "Algorithmen vor Gericht: Anforderungen an eine Rechts-KI im Justizumfeld"25. November 11:0011:45.