Verwaltung der Zukunft: Der juristische Arbeitsmarkt hat sich massiv gedreht. Der Arbeitgeber muss sich heute stärker bewerben als das Talent. Was heißt das für die Justiz konkret?
Philipp Commandeur: Für die Justiz bedeutet das, dass sie ihre Rolle im Markt komplett neu definieren muss. Sie erlebt das Ende der Auswahl aus einem vollen Bewerberpool: Kamen 2013 rechnerisch noch mehr als fünf Talente auf eine offene Stelle, liegt dieser Wert für 2024 bei Berufen in Recht und Verwaltung nur noch bei knapp zwei Talenten. Dieser Trend einer zunehmenden Arbeitskräfteknappheit hat sich verfestigt. Talente haben heute eine echte Wahl, und die Justiz steht in einem viel härteren Wettbewerb – nicht nur unter den Behörden, sondern vor allem mit Kanzleien und Rechtsabteilungen, die starke Alleinstellungsmerkmale entwickelt haben. Wenn die Justiz Stellen aufbauen will, aber quantitativ kaum genug Köpfe nachkommen, darf sie nicht mehr passiv warten. Sie muss sich dem Wettbewerb stellen, der in den kommenden Jahren eher noch härter wird.
VdZ: Welche Erkenntnis aus der Studie hat Sie persönlich am meisten überrascht?
Commandeur: Am meisten hat mich überrascht, wie stark die Anziehungskraft der Justiz gelitten hat und dass sie im Vergleich zu Kanzleien beim Thema Digitalisierung oft gar nicht mehr stattfindet. Besonders alarmierend ist dabei die Innenansicht: Die größten Kritiker sitzen in den eigenen Reihen. Fast drei Viertel der Mitarbeitenden bewerten die eigene IT-Infrastruktur als nicht konkurrenzfähig. Selbst interne Beschäftigte geben ihrem Arbeitgeber auf der Skala von 0 bis 5 nur eine Note von 2,75. Um das einzuordnen: Der Wert liegt zwar rechnerisch über der neutralen Mitte von 2,50, ist aber für eigene Mitarbeiter ein sehr schwaches Ergebnis. Es ist bestenfalls "leicht überdurchschnittlich", aber weit entfernt von einer echten Begeisterung. Wenn selbst die eigenen Leute den Arbeitgeber kaum besser als "Mittelmaß" bewerten, fehlt die Strahlkraft nach außen. Dass die Kanzleien gleichzeitig mit über 91 % Zustimmung die absolute Hoheit über das Thema Digitalisierung besitzen, verdeutlicht die gewaltige Lücke in der Wahrnehmung.
VdZ: Laut Studie gilt die Justiz als „Plan B“. 74 % der Talente bewerben sich ausschließlich bei Kanzleien. Welche Fehlannahmen hat die Justiz über ihre eigene Attraktivität?
Commandeur: Die Justiz erliegt oft noch dem Irrglauben, sie sei per se attraktiv – etwa durch den direkten Draht zu Talenten im Referendariat oder das Argument der Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben. Die Realität sieht anders aus: Selbst Unternehmensjuristen, die oft ähnliche Werte wie Sicherheit suchen, bewerten die Justiz nur mit 2,33 von 5. Damit rutscht die Bewertung in den klar negativen Bereich unterhalb der neutralen Mitte von 2,50. Das Gesamtergebnis bestätigt das: Mit einem Durchschnittswert von 2,42 von 5 verfehlt die Justiz die neutrale Schwelle. Sie wird am Markt also tendenziell als unattraktiv wahrgenommen. Die Dringlichkeit, sich digitaler und moderner aufzustellen, ist noch nicht überall angekommen. Solange die Justiz aber im Schnitt unter der kritischen Marke von 2,50 bleibt, führt das zwangsläufig zu der geringen Bewerbungswahrscheinlichkeit, die wir in den Daten sehen.
VdZ: Die Bewerbungsprozesse werden als zu komplex wahrgenommen. Warum ist dieser „unsichtbare Verlust“ so gefährlich? Haben Sie Beispiele für typische komplexe Bewerbungsschritte?
Commandeur: Dieser Verlust ist deshalb so gefährlich, weil er stumm passiert. Die Justiz erhält keine Rückmeldung von diesen Talenten, weil sie gar nicht erst in Kontakt treten. Die Studie beziffert diesen verborgenen Schwund genau: Allein der erwartete Aufwand schreckt bereits 26,5 % der Kanzlei-Anwälte und sogar 45 % der Unternehmensjuristen von einer Bewerbung ab. Für Personalverantwortliche ist das ein blinder Fleck. Typische komplexe Schritte sind Verfahren, die nicht intuitiv sind oder unnötig viele Informationen abfragen, die für eine erste Bewertung irrelevant sind. Wer effiziente Abläufe gewohnt ist, empfindet solche Hürden als Warnsignal für die gesamte Arbeitsweise der Behörde. Hier hat die Justiz massiven Aufholbedarf.
VdZ: Oft entscheidet bereits der erste Eindruck. Woran merken Talente innerhalb von 30 Sekunden, ob ein Arbeitgeber modern und digital denkt?
Commandeur: Talente merken das sofort an der Art, wie und wo sich die Justiz präsentiert. Wurde verstanden, wie modernes Personalmarketing funktioniert? Ist die Justiz auf den relevanten digitalen Plattformen und Veranstaltungen sichtbar? Vor allem aber ist die Erfahrung im Bewerbungsprozess selbst die digitale Visitenkarte: Ein digital-affines Talent – und für 94 % sind digitale Kompetenzen heute entscheidend – erwartet einen digitalen Ablauf. Wenn der Prozess analog, starr oder kompliziert wirkt, ist das für Bewerber der Beweis, dass auch der Arbeitsalltag nicht modern ist. Da die Kanzleien hier den Standard setzen, fällt die Justiz durch negative Nutzererfahrungen sofort durchs Raster.
VdZ: Frauen und Talente 30+ bewerten die Justiz tendenziell attraktiver. Was macht diese Zielgruppen empfänglicher? Und wie kann die Justiz das nutzen?
Commandeur: Hier sind Sicherheit und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf weiterhin starke Faktoren. Die Daten zeigen einen spannenden Kontrast: Frauen bewerten die Justiz mit 2,61 von 5 leicht positiv – sie liegen also über der neutralen Mitte von 2,50. Männer hingegen bewerten sie mit 2,23 von 5 deutlich im negativen Bereich. Auch mit steigender Berufserfahrung und Alter nimmt die Attraktivität zu. Aber Vorsicht: Ein Wert von 2,61 ist zwar "im grünen Bereich", aber noch lange kein Ruhekissen. Rechtsabteilungen haben in den letzten Jahren extrem aufgeholt und bieten oft ähnliche Vorteile bei modernerer Ausstattung. Die Justiz muss diese Stärken gezielter ausspielen und sich klar positionieren, um sich von den Unternehmensjuristen nicht den Rang ablaufen zu lassen. Sie muss die Gruppe der „Unentschlossenen“ – immerhin 38 % der Bewerber – aktiv abholen.
VdZ: Es gibt viele Befürchtungen, KI würde Arbeitsplätze gefährden. Die Talente scheinen das anders zu sehen. Wie kann dieser Unterschied erklärt werden?
Commandeur: Die Talente haben sehr gut verstanden, wohin die Reise geht: KI wird nicht den Juristen ersetzen, sondern den Juristen, der keine KI nutzt. Die Erzählung von der Angst vor Technologie bestätigt sich in der Justiz nicht. Im Gegenteil: 61,5 % der Befragten sehen KI als Schlüssel zur Bewältigung der Arbeitslast. Es herrscht ein gesunder Pragmatismus. Man erwartet keine Wunder, aber eine spürbare Entlastung von „bis zu 25 %“, vor allem bei wiederkehrenden Routineaufgaben. Wenn die Justiz KI als Unterstützungswerkzeug einsetzt, das Freiräume für die eigentliche juristische Arbeit schafft, ist das für Talente ein massiver Anziehungsfaktor und kein Bedrohungsszenario.
VdZ: Wenn Sie der Justiz heute drei Schritte empfehlen müssten, um wettbewerbsfähig zu werden — welche wären das?
Commandeur: Erstens: Präsenz zeigen. Die Justiz muss dort stattfinden, wo der Wettbewerb tobt – auf Karriereplattformen und Veranstaltungen zu digitalen Rechtsthemen. Sie darf die Bühne nicht den Kanzleien überlassen. Zweitens: Interne Digitalisierung als Argument nutzen. Projekte wie die E-Akte oder KI-Tools steigern die Attraktivität spürbar. Der digitale Wandel muss nicht versteckt, sondern als gesellschaftlicher Beitrag verkauft werden: Wer zur Justiz kommt, gestaltet den Rechtsstaat der Zukunft. Drittens: Hürden einreißen. Der Zugang muss radikal vereinfacht werden. Macht es den Talenten nicht so schwer, in Kontakt zu treten! Ein schlanker Prozess verhindert den „unsichtbaren Verlust“ und ist der erste Schritt zur erfolgreichen Einstellung.
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