Innovationen in der Justiz
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Kulturwandel vor Technikwandel: Innovation in der deutschen Justizlandschaft

Annika Schröder vom Legal Tech Verband Deutschland im VdZ-Interview

Innovation ist kein Selbstläufer – das gilt besonders für die Justiz. Digitalisierung gelingt nur, wenn Technik und Kultur Hand in Hand gehen. Rechtliche Freiräume, geschützte Erprobungsräume und tragfähige Personalstrukturen sind genauso entscheidend wie die Bereitschaft, alte Prozesse neu zu denken. Wir sprechen mit Annika Schröder, Head of Public Affairs beim Legal Tech Verband Deutschland, darüber, wie Innovation in der Justiz praktisch umgesetzt werden kann und welche Rahmenbedingungen nötig sind, damit neue Ideen tatsächlich ins System gelangen.

Verwaltung der ZukunftWo steht Deutschland aktuell, wenn es darum geht, Innovationen in der Justiz tatsächlich ins System zu bringen und spürbare Wirkung zu erzielen? 

Annika SchröderIch glaube, wir sind in einigen Bereichen weiter, als es in der öffentlichen Wahrnehmung manchmal scheint. Gerade in der Justiz ist Digitalisierung auch eine Frage von Vertrauen, Sicherheit und Nachvollziehbarkeit. Dort wird mit hochsensiblen Daten gearbeitet und das erfordert höchste Sicherheitsstandards, die den Fortschritt natürlich verlangsamen. Der elektronische Rechtsverkehr, die eAkte und Pilotierungen für Online-Verfahren zeigen, dass die Veränderungen längst begonnen haben.  

Annika Schröder ist seit Januar 2025 als Head of Public Affairs des Legal Tech Verbands Deutschland tätig und gestaltet den Verband an der Schnittstelle von Technologie, Recht und Politik aktiv mit.

Nur leider geht vieles zu langsam. Zwar werden in vielen Bundesländern Verfahren heute bereits digital eingereicht und bearbeitet, und die Pandemie hat einmal mehr gezeigt, wie wichtig digitale Infrastruktur ist, um rechtsstaatliche Verfahren in Krisenzeiten aufrechtzuerhalten. Dennoch steht Deutschland beim Thema Rechtsdigitalisierung noch zu sehr unter dem Motto „Regulate first, innovate second“. Wir neigen dazu, Innovationen erst dann zuzulassen, wenn jedes theoretische Risiko ausgeschlossen ist. Damit wird leider oft verhindert, dass Innovation überhaupt entsteht. Das führt dazu, dass wir regulatorisch weit vorne, technologisch aber eher im hinteren Mittelfeld sind. Ein modernes Rechtssystem braucht jedoch beides: klare Leitplanken und Raum zum Experimentieren. Gerade Reallabore, wie sie im Online-Verfahrensgesetz vorgesehen sind, könnten hier den Kulturwandel unterstützen.

Hinzu kommt ein strukturelles Problem: Die Justiz ist Ländersache, aber ob die Digitalisierung der Justiz ebenfalls Ländersache sein sollte, finde ich fraglich. Wenn jedes Bundesland eigene Systeme und Standards entwickelt, entsteht ein Flickenteppich, der Innovation verlangsamt und die Interoperabilität erschwert. Innovation steht für Skalierbarkeit, wenn also digitale Verfahren funktionieren sollen, wäre eine stärkere Koordination oder bestenfalls eine Kompetenzbündelung auf Bundesebene sinnvoll.

Eine weitere Hürde ist die oftmals unzureichende Nutzerfreundlichkeit der bestehenden Systeme für Anwaltschaft, Richterinnen und Richter und Bürgerinnen und Bürger. Viele Systeme sind zu wenig intuitiv und erzeugen Mehraufwand statt Effizienz. Kulturell gibt es aber auch positive Entwicklungen: Die Digitalisierungskompetenz jüngerer Justizangehöriger wächst stetig, das Thema hat an politischer Sichtbarkeit gewonnen, und es gibt gezielte Förderprogramme auf Bundes- und Länderebene. Diese neue Generation bringt frische Impulse in ein System, das lange als unbeweglich galt.

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Wir neigen dazu, Innovationen erst dann zuzulassen, wenn jedes theoretische Risiko ausgeschlossen ist. Damit wird leider oft verhindert, dass Innovation überhaupt entsteht.

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VdZWelche Rahmenbedingungen braucht es, damit Veränderungen nicht an bestehenden Strukturen oder Prozessen scheitern?

SchröderEs braucht vor allem drei Dinge für verlässliche, einheitliche und langfristig gedachte Rahmenbedingungen.

Erstens: Datenökonomie und Interoperabilität. Digitalisierung braucht strukturierte Daten, keine PDFs mit Papierlogik. Nur wenn Akten, Urteile und Anträge maschinenlesbar sind, können sie automatisiert verarbeitet und weiterverwendet werden. Dafür braucht es verbindliche Standards, offene Schnittstellen (APIs) und einheitliche Datenmodelle, wie bspw. im Format XJustiz.

Zweitens: Einheitliche Strukturen und Freiräume für Innovationen. Unser föderales System bremst. Wenn 16 Länder ihre eigenen Systeme entwickeln, wird es teuer, langsam und intransparent. Mit Regulatory Sandboxes können neue Technologien risikobegrenzt getestet werden und aus der Praxis heraus weiterentwickelt werden. Dabei sollte technologische Abhängigkeit von außereuropäischen Anbietern vermieden werden und die digitale Souveränität der Justiz gestärkt werden.

Drittens: Nachhaltige Finanzierung und klare Zuständigkeiten. Digitalisierung endet nicht mit der Anschaffung neuer Systeme. Es ist ein vom Haushalt unabhängiges und dauerhaftes „Digitalbudget“ für Betrieb, Wartung und Weiterentwicklung mit festen Ansprechpartnern nötig, um einen nachhaltigen Erfolg und Implementierung zu sichern.

VdZWie wichtig ist aus Ihrer Perspektive die Organisationskultur, um neue Prozesse in der Justiz erfolgreich umzusetzen?

SchröderDie Organisationskultur ist der Dreh- und Angelpunkt. Der technologische Wandel ist keine rein technische, sondern eine strukturelle Transformation. Er verändert Machtverhältnisse zwischen Institutionen, Akteuren und den Bürgern. Wenn Parlamente, Gerichte und Verwaltungen digital werden, müssen diese Prozesse demokratisch kompatibel digitalisiert werden. Technik verändert nichts, wenn sie nicht auch kulturell angenommen wird. Wir brauchen in der Justiz eine Kultur, die den stattfindenden Wandel als Chance versteht. Digitalisierung sollte nicht als Kontrollinstrument oder als Last empfunden werden, sondern als Werkzeug, das die eigene Arbeit stärkt und unterstützt.

Um einen „Mindset-Shift“ in der deutschen Rechtskultur zu erreichen, braucht es eine neue Haltung mit mehr Mut und Lernkultur. Gerade Richterinnen und Richter berichten, dass sie die Einführung der eAkte erst als Belastung erlebt haben, weil sie analoge Prozesse lediglich ins Digitale übertrug. Wenn man aber Prozesse neu denkt, bspw. durch automatische Fristverwaltung, Filterfunktionen oder digitale Terminabstimmung, entsteht ein wirklicher Mehrwert. Ich bin überzeugt, dass die Leistungsfähigkeit der Justiz auch davon abhängt, ob wir eine Haltung entwickeln, die Fehler erlaubt und auch neue Wege ausprobiert. Wir brauchen in Deutschland mehr „digitale Lernkultur“ und keine unbedingte Perfektion beim ersten Wurf.

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Um einen „Mindset-Shift“ in der deutschen Rechtskultur zu erreichen, braucht es eine neue Haltung mit mehr Mut und Lernkultur.

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VdZAndere Länder wie Estland gestalten ihre digitale Justiz zentraler. Wie können diese Länder als Vorbild fungieren, und wo sollte Deutschland trotz föderaler Strukturen mutiger agieren? 

SchröderEstland wird häufig als Vorbild genannt, wenn es um Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung geht. Was man dabei nicht vergessen darf: Estland ist sehr viel kleiner, mit einer deutlich homogeneren Verwaltung. Deutschland ist ein föderaler Tanker. Das hat Nachteile in der Geschwindigkeit, kann aber auch Vorteile für die demokratische Balance mit sich bringen.

Anstatt wie in Estland einfach analoge Prozesse zu digitalisieren, haben wir die Chance, Prozesse wirklich neu zu denken und zu hinterfragen. Was macht noch Sinn, was sollte neu gedacht werden? Innovation bedeutet nicht nur zu digitalisieren, sondern auch innovativ zu denken und damit auch bestehende Prozesse zu hinterfragen. Zentrale Systeme, wie sie Estland eingeführt hat, bergen die Gefahr, Macht und Kontrolle zu konzentrieren. Dort liegen alle Gerichts- und Verwaltungsdaten in zentralen Datenbanken, die theoretisch missbraucht werden können.

Wir sollten dort mutiger sein, wo Koordination möglich und sinnvoll ist: bei Standards, bei einer gemeinsamen digitalen Infrastruktur, bei interoperablen Schnittstellen. Wir haben die Chance, die Justiz von Grund auf digital zu konzipieren, nicht nur zu digitalisieren.

Wenn wir föderal gemeinsam digital denken, und nicht 16-mal neu, gewinnen wir Effizienz, ohne Souveränität aufzugeben. Ziel sollte kein Zentralstaat sein, sondern das Schaffen eines Raums für regionale Anpassung und praxisnahe Erprobung.

VdZ: Welche Rolle können Verbände bei der Steuerung und Skalierung digitaler Innovationen übernehmen? 

SchröderVerbände wie der Legal Tech Verband sind Brückenbauer zwischen Politik, Verwaltung, Justiz und Wirtschaft. Wir fungieren zum einen als Plattform für Austausch und Wissenstransfer und als politische Stimme der Legal Tech Community nach außen. Unsere Aufgabe ist es, praxisnahe Impulse in die Gesetzgebung zu tragen, wie beispielsweise in die Debatte um das Online-Verfahrensgesetz, die Strukturierung von Prozessdaten oder die Überarbeitung des EU AI Acts.

Als Verband liefern wir mit unserem „Legal Tech Monitor“ auch empirische Daten: Wie digital sind Kanzleien und Behörden wirklich? Wo liegen Investitions- und Innovationshemmnisse? Diese Daten helfen, um den Daumen nochmal in die Wunde zu legen und bestenfalls Fehlentwicklungen auf dem Markt möglichst früh zu erkennen und dann auch zu kommunizieren. Kurz gesagt sind wir Übersetzer zwischen der Legal Tech-Welt und der politischen Welt mit dem Ziel, die Perspektiven der Praxis direkt in politische Entscheidungsprozesse einzubringen.

VdZ: Welche Innovation in der Justiz würden Sie sofort herbeiwünschen, wenn es keinerlei rechtliche oder organisatorische Hürden gäbe?

Schröder: Ich wünsche mir eine nationale, instanzenübergreifende Urteilsdatenbank, zugänglich für alle Bürgerinnen und Bürger, Startups, Anwälte und Gerichte gleichermaßen.
Gerichtsentscheidungen würden zeitnah veröffentlicht werden, ausgenommen sensible Bereiche wie Familien- oder Jugendverfahren, mit intuitiver Benutzerführung, einem Live-Status, sicheren Identitäten und ganz wichtig 
einer durchgängig strukturierten Datenbasis.

Darüber hinaus brauchen wir digitaltaugliches Recht. Das heißt, Gesetze müssen so formuliert sein, dass sie nicht nur für Menschen, sondern auch für Maschinen lesbar und operationalisierbar sind. Ein digitales Verfahren braucht Regeln, die mit einem Algorithmus überprüfbar sind.

Ich nenne hier ein Beispiel: Wenn ein Gericht eine Ladung oder Frist elektronisch verschickt, sollte das System automatisch erkennen, ob die Zustellung erfolgreich war und wann Fristen zu laufen beginnen. Solche Mechanismen gibt es technisch längst, scheitern aber immer noch an rechtlichen Detailhürden. Eine solche Reform wäre nicht nur ein Effizienzprojekt, sondern ein Demokratieprojekt. Ich bin überzeugt, dass nur wenn der Zugang zum Recht einfach, sicher und nachvollziehbar ist, der Rechtsstaat erlebbar und das Vertrauen in die Demokratie stark bleibt.

Annika Schröder beim 4. Digital Justice Summit

🗓️ 24.-25. November, Berlin Marriott Hotel
➡️ Hier geht's zum Programm

Annika Schröder moderiert die Werkstatt "Justiz als Labor?" Wie Innovationen ins System kommen und echte Wirkung zeigen, am 24. November von 13:30-14:30 Uhr.