Eine Mitarbeiterin sitzt mit Mundschutz vor einem Bildschirm
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Corona zwischen digitalem Anspruch und föderaler Wirklichkeit

Welche Strategien haben der sächsischen Stadt Chemnitz geholfen, das SARS-CoV-2-Virus einzudämmen?

Die Autor*innen berichten detailliert über Erfahrungen bei der Eindämmung des SARS-CoV-2-Virus, die sie als Führungskräfte verschiedener Ämter der Stadt Chemnitz während der ersten und zweiten Corona-Welle gemacht haben. Für den Artikel haben Cornelia Utech (Leiterin Pandemiemanagement Chemnitz), Andreas Ehrlich (Leiter Hauptamt), Bernd Hoffmann (Leiter Amt für Informationsverarbeitung) und Michael Walter (Stabsstelle Wirtschaft, Digitalisierung Chemnitz) einen Blick zurückgeworfen und ihre Erkenntnisse zusammengetragen, die sie in vielen Monaten im Krisenmodus gewonnen haben.

Der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) ist im föderalen System Deutschlands weitestgehend kommunal organisiert. Diese Tatsache bringt überall dort Vorteile, wo regionale Besonderheiten in die Pandemiebekämpfung einfließen können, kommt jedoch an seine Grenzen in den Anforderungen für ein digital vernetztes Pandemiemanagement. Aus diesem Grund haben sich die Gesundheitsminister von Bund und Ländern im Herbst  2020 auf einen Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst geeinigt.

Im Wesentlichen geht es bei dessen Umsetzung darum, die Gesundheitsämter Deutschlands zu modernisieren und dabei Abläufe, Prozesse und Strukturen neu zu entwickeln und bedarfsgerecht auszurichten. Ziel dabei ist es, den Gesundheitsämtern eine am Bedarf und an einer effizienten, vernetzten und digitalen Arbeitsweise ausgerichtete Ausstattung zu ermöglichen. Dies erfordert neben digitalen, strukturellen und organisatorischen Analysen auch einer strategischen Neuausrichtung der Aufgabe „Öffentlicher Gesundheitsdienst“.

In Chemnitz findet dazu in Kürze ein Kick-Off aller beteiligten Organisationseinheiten statt. Unter dem Projektdach „Gesundheitsamt 2.0“ sollen diese Fragen diskutiert, in einer Projektstruktur bearbeitet und das Gesundheitsamt zukunftsfähig aufgestellt werden. Die im Folgenden beschriebenen Erkenntnisse und Analysen dienen dabei als Grundlage und sollen darüber hinaus einen Einblick in das Pandemiemanagement unserer Stadt geben. Dass sich die Stadt Chemnitz dabei 
mit Stand 27.01.2021 in der 7-Tages-Inzidenz auf dem sachsenweit niedrigsten Stand von unter 100 bewegt, kann neben den getroffenen politischen Restriktionen auch als Indikator für den richtig eingeschlagenen, neuen Weg im Pandemiemanagement der Stadt gewertet werden.

Die erste Welle Anfang 2020: Nur ein Vorspiel

Am 28. Februar 2020, einen Monat nachdem das Corona-Virus erstmals in Deutschland auftauchte, und zwei Tage nachdem der Norddeutsche Rundfunk die erste Folge des fast schon legendären ersten Podcasts „Das Corona-Update“ sendete, riefen der Personal- und der Sozialbürgermeister der Stadt Chemnitz die oberen Führungskräfte zu einer Krisensitzung zusammen: Die Lage wurde erläutert, Hygieneregeln ausgegeben, der Umgang mit rückkehrenden Skiurlaubern aus Österreich abgesprochen. Kurzum, es wurde informiert und sensibilisiert zu einer Gefahr, die wir nur ahnten, und zu einem Virus, der noch vor den Toren der Stadt 
auf uns wartete.

Bereits zwei Wochen später am 13. März 2020 tagte der erste Verwaltungsstab und am 10. März 2020 wurden die ersten vier Corona-Infizierten in Chemnitz diagnostiziert. Es wird zu diesem Zeitpunkt noch fast zwei Wochen dauern, bis der erste Corona-Tote in unserer Stadt zu beklagen ist.

Gesundheitsamt Chemnitz

Das Gesundheitsamt der Stadt Chemnitz ist zu diesem Zeitpunkt eine durchaus bekannte Adresse: Anlaufstelle für Schwangere, Grippeimpfungen, Schuleingangsuntersuchungen, aber auch Suchtfragen oder reisemedizinische Beratungen. Menschen zu beraten oder in konkreten Nöten zu helfen war business as usual – aber fast über Nacht zum wichtigsten Krisenmanager der Kommune zu werden – eine ganz andere, bis dahin nicht gekannte und erahnte Rolle. Plötzlich und gleichzeitig musste man:

  •  täglich Corona-Fälle aufnehmen, bearbeiten, Statistiken füllen und zum RKI melden
  •  öffentlich Aufklärung betreiben über ein Virus, das selbst Virologen kaum kennen
  • unzählige Fragen nach dem richtigen Schutz und Hygienemaßnahmen beantworten
  • eine Flut von Presseanfragen oder -mitteilungen bearbeiten bei gleichzeitiger Dauerpräsenz in Krisenstäben 
  • Corona-Teststationen planen und koordinieren
  • Szenarien für Quarantänemaßnahmen und Einrichtungsschließungen entwerfen
  • Hygienekonzepte von Pflegeheime prüfen und beraten, um ein Worst-case-Szenario zu vermeiden

Es gibt in diesem Moment für diese Herausforderung keine Rezepte und Blicke in die Pandemiekonzepte aus den Schubladen helfen kaum. Erstmals kritisch wird die Situation nach den ersten Ausbrüchen in zwei Schulen bereits Mitte März – also noch vor dem „großen Lock down“: Es fehlen die richtigen Adressen und die vollständigen Namen von Schülern und Eltern, Daten werden per Fax übermittelt und mehrfach abgeschrieben, es fehlt im Gesundheitsamt an geübtem und fachkundigem Verwaltungspersonal, die ärztlichen Führungskräfte werden als medizinische Fachkräfte an anderer Stelle gebraucht und stehen als Krisenmanager nicht zur Verfügung. Digitalisierung, elektronische Verfahren und IT-affines Personal gibt es - wenn überhaupt - in anderen Bereichen der Verwaltung, bei der immerhin im Einsatz befindlichen Software Octoware fehlt es an der nötigen Erfahrung für die „Massenanwendung“.

Erkenntnis 1

Die bis dahin „geordneten“ Verwaltungswege von der Erstinformation bis zum Quarantänebescheid im Briefkasten der Infizierten sind der exponentiellen Ausbreitung des Corona-Virus nicht ansatzweise gewachsen.

Die Fallzahlen steigen Ende März 2020 exponentiell an die Verwaltung wird im gleichen Atemzug drastisch heruntergefahren. Noch eilig beschaffte Laptops helfen, einen überschaubaren Teil des „betriebsnotwendigen Personals“ ins Home-Office zu entsenden. Der Verwaltungsstab beginnt von nun an täglich zu tagen, erste Verstorbene sind zu beklagen, es „brannte“ an allen Ecken gleichzeitig: In den Krankenhäusern und Pflegeheimen, bei der Maskenbeschaffung, der Desinfektionsmittelverteilung, der Notbetreuung von Kindern und Schülern. In dieser schwierigen Gemengelage versuchte das Gesundheitsamt mit den vorhandenen Bordmitteln und Personal den Überblick über Erkrankte und Genesene, Verstorbene und Neuinfizierte zu behalten, zu Kontaktpersonen und auslaufende Quarantänen. All das bei einer Inzidenz (das Wort war noch gar nicht „erfunden“), deutlich unter 50.

Erkenntnis 2

Die eher sozialmedizinisch und auf Gesundheitsfürsorge orientierten Mitarbeiter und Führungskräfte des Gesundheitsamtes mussten sich auf eine ordnungspolitisch geprägte Krisensituation einstellen, die mit „voller Wucht“ hereinbrach und auf die sie in diesem Umfang weder fachlich, personell noch organisatorisch eingestellt waren und wohl auch nicht sein konnten: Die „klassischen Seuchen“ gelten als ausgerottet, das Impf- und Gesundheitswesen hierzulande ist verlässlich und Weltspitze, das überschaubare Aufflackern von TBC oder Masern hat man im Griff.

Verwaltungsintern wurden erste Unterstützungsangebote gemacht und erste grundsätzliche Alternativen vorgedacht. Wir begannen lange vor dem „Pakt für den öffentlichen Gesundheitsdienst“ zu verstehen, dass wir Lösungen größer denken und rasch anpacken müssen. Über den unmittelbar betroffenen Akteuren aber schlugen die Corona-Wellen zusammen und es blieb kaum Luft zum Durchatmen und gleich gar kein Freiraum zum Neu-Denken.

Erkenntnis 3

Rückblickend erhielt das Gesundheitsamt als „Epizentrum der Pandemiebewältigung“ im entscheidenden Moment der ersten Welle nicht die Aufmerksamkeit, nicht die Unterstützung, aber auch nicht die geeigneten Vorgaben, die es gebraucht hätte, und war inmitten der Krise wohl auch kaum in der Lage dieses Fehlen zu erkennen und zu formulieren.

Der Bund und Freistaat gaben schließlich vor, dass die Eindämmung der Pandemie nur durch ein systematisches Contact Tracing zu bewältigen sei. Die Kontaktnachverfolgung wurde zunehmend zu einem Schwerpunkt in der Prozessneuausrichtung. In Chemnitz wurden noch im April 2020 ressortübergreifende Strukturen geschaffen: in Summe 15 Teams á 5 Mitarbeiter, um in die Pandemiebewältigung einzutreten. ABER, es kam anders. Gleichlaufend – im April – begannen die Infektionszahlen bundesweit zu sinken. Uns überrollte –inmitten eines noch aktiven Pandemiegeschehens nahezu fieberhafte Forderungen und Aktivitäten zur Rückkehr in die Normalität: Öffnung von Kitas und Schulen, Sport und Kultureinrichtungen, Frisören und Baumärkten und nicht zuletzt unserer eigenen Bürger- und Serviceämter. Die reziprok zu den sinkenden Fallzahlen steigende Öffnungs-Euphorie band mit einem Male alle kommunalen Kräfte sowie die politische und mediale Aufmerksamkeit. Das Gesundheitsamt mutierte unversehens zum Berater und Kontrolleur für die geforderten und überbordenden Hygienekonzepte in allen Bereichen der Stadtgesellschaft und der Wirtschaft.

Erkenntnis 4

Genau in dieser wichtigen Phase aber geriet das Management des nach wie vor aktiven Corona-Infektionsgeschehens ins Hintertreffen: Alle gerade begonnenen Lernprozesse, die neu gewonnenen Erfahrungen der ersten Welle blieben sprichwörtlich liegen und wurden vom Expresszug in die Normalität überholt.

Es gelang uns gerade noch, von den 15 zur Kontaktnachverfolgung vorgesehenen Teams wenigstens fünf Teamleiter zu schulen; zum Einsatz gekommen sind die aus anderen Bereichen der Verwaltung kommenden „Neulinge“ dann schon nicht mehr. Ein – rückblickend – vielleicht wichtiger Anker konnte aber noch im Frühsommer geworfen werden: der Versuch, die wichtigsten Lerneffekt aus der Krise als „Wegweiser“ in die Zukunft zusammenzutragen, mit dem damals noch vagen Hintergedanken an eine „Zweite Welle“. Dies erwies sich als gute Grundlage für die darauffolgende Neuorientierung und -aufstellung. Diese „Wegweiser“ zeigten in Richtung einer Verwaltungsarbeit, die in allen Bereichen dauerhaft Kontakte reduziert und dabei auf elektronische Kommunikation nach innen und außen, auf weniger „Laufkundschaft“ mit Wartebereichen und mehr Terminvereinbarungen online wie telefonisch, auf weniger Präsenz und mehr „remote“ Arbeiten setzt. Und – last but not least – wurde der Weg in Richtung eines Gesundheitsamtes 2.0 gewiesen. Es entstand eine Vorlage zur Verwaltungsarbeit nach der Corona-Krise im Frühjahr 2020.

Auszug: 4.1 Es wird ein Konzept erarbeitet, welches die verwaltungsinterne, kurzfristige Krisenunterstützung des Gesundheitsamtes zur Bewältigung seiner öffentlich-rechtlichen Aufgaben auf dem Gebiet des Infektionsschutzes ermöglicht, mit folgenden Eckpunkten:

  •  Identifizierung amtsinterner Aufgabenbereiche innerhalb des Gesundheitsamtes (stellenkonkret), zur Unterstützung der MA im Infektionsschutz (Telefonhotline, Kontaktnachverfolgung, Unterstützung Testungen, Corona Ambulanz)
  • Identifizierung weiterer Stellen in der SVC, die zur Unterstützung nach geeignet sind mit freiwilligen Aufgaben bzw. Tätigkeiten, die temporär ruhen können
  • Gesamtunterstützungspotential 40 AE (schnelle Verfügbarkeit, kurzfristiger Einsatz, auf freiwilliger Basis der Beschäftigten)
  • Aufgabenübertragung klären (welche Aufgaben nimmt A53 wahr, welche die Helfer
  • Kontaktnachverfolgung, Datenerfassung, Quarantänebescheide etc.)
  • Schulungs- und Übungskonzept erstellen

Ehe jedoch Entscheidungen zu den „Wegweisern“ ausdiskutiert, abgewogen und beschlossen werden konnten, kehrten die Chemnitzer und die Verwaltungsmitarbeiter aus ihren Sommerurlauben zurück und mit ihnen bei niedrigerer werdenden Temperaturen auch das Corona-Virus SARS-CoV-2.

Die zweite Welle war dann der „Tsunami“

Das Virus erwischte uns an den nahezu gleichen Schwachstellen wie im Frühjahr. Bis in den Oktober hinein hofften und glaubten Viele immer noch, die neue Welle mit einigen Anpassungen in den Prozessen und den ersten Erfahrungen vom Frühjahr bremsen und brechen zu können. Das erwies sich spätestens Mitte Oktober als Trugschluss. Im Rückgriff auf die zusammengetragenen Erfahrungen und „Wegweiser“ traf die Verwaltungsspitze Ende Oktober und Anfang November dann auch richtungsweisende personelle und organisatorischen Entscheidungen.

In einer ersten Sofortmaßnahme beschloss der Verwaltungsstab am 22. Oktober 2020 die sofortige Einrichtung eines Stabs-Teams im Gesundheitsamt und betraute die Abteilungsleiterin aus dem Bereich Seniorenhilfe/Pflegekoordination mit dem Aufbau und der Leitung. Die Übernahme logistischer Aufgaben und die Bündelung der Kommunikation waren der Auftrag.

Die Corona-Infektionen im Umland von Chemnitz gingen steil nach oben, mehrere Ausbrüche in Pflegeheimen und Schulen verschärften innerhalb weniger Tage die Situation auch in der Stadt. Zudem blieben die Stadtverwaltung und das Gesundheitsamt selbst nicht mehr von Infektionen und Quarantänen verschont: Schlüsselpersonen fielen aus bzw. konnten nur eingeschränkt tätig werden. Die viel zitierte „zweite Welle“ war endgültig angekommen.

Die Stadtspitze traf umgehend eine weitere Entscheidung: Die Leiterin des Sozialamtes, im Krisenmanagement erfahren und zudem mit einer medizinischen Grundausbildung ausgerüstet, wurde als Chefin einer „aus dem Stand“ zu schaffenden Pandemiestruktur berufen und abgeordnet.

Erkenntnis 5

Die zweite Welle, mit einem Vielfachen an Fallzahlen bzw. einer davon galoppierenden Inzidenz, war mit den hergebrachten Bordmitteln und Abläufen der Verwaltung und im Korsett der bisherigen Strukturen nicht mehr zu bewältigen. Für die Bewältigung von akuten Krisen mit atypischen Anforderungen brauchen Organisationseinheiten eine veränderte personelle Aufstellung, um die im richtigen Moment die erforderlichen Stärken und Kompetenzen „in Stellung“ bringen zu können.

Das waren die nächsten entscheidenden Schritte: Die neue Leitung richtete ein vertikales und horizontales Krisenmanagement ein. Neben dem unter dem Oberbürgermeister stehenden Krisenteam, in dem Entscheidungen von strategischer Bedeutung rasch getroffen werden, wurde eine Pandemiestruktur im Gesundheitsamt entwickelt. Diese orientiert sich am Ablauf und den Aufgaben zur Ermittlung der Infektionsketten.

Erste Bausteine für die Pandemiestruktur waren die Bündelung aller Grundsatzaufgaben in dem bereits gegründeten Stabs-Team und die Kanalisierung der telefonischen Bürgeranfragen in einer Corona-Telefonhotline.

Mit der Hotline konnten nicht nur die unzähligen Anfragen beantwortet, sondern vor allem auch die Mitarbeiter in der unmittelbaren Pandemiebewältigung (Kontaktnachverfolgung) entlastet werden. Wöchentlich gingen etwa 5.000 Anrufe ein, der Tagesspitzreiter lag bei 1.444 Anrufen. Dies bedeutete auch für die Mitarbeiter in der Telefonhotline ein immenses Arbeitspensum, um die Anfragen qualifiziert beantworten zu können. Zudem waren professionelle Gelassenheit und Souveränität gefragt, da Anrufer zum Teil verunsichert, ängstlich und eben nicht nur „nett und geduldig“ waren. Rasch wurde klar: Die Hotline muss mehrstufig ausgebaut werden: Eine Trennung von „Frontline und BackOffice“ war die Antwort, um die Qualität der Beauskunftung zu verbessern.

Im nachfolgenden Schritt begann die Gründung bzw. Reorganisation weiterer Teams: das so genannte Abstrich Team für die PCR-Tests in den (Pflege-)Einrichtungen, das Team Kontaktnachverfolgung (getrennt nach innerhalb und außerhalb von Einrichtungen) und das Team Bescheid-Erteilung / Quarantänekontrolle für die Entscheidungen und Kontrollen der medizinischen und physischen Quarantänen.

Alle Teams konnten innerhalb weniger Tage mit dem erforderlichen Personal ausgestattet bzw. aufgestockt werden: Mit Mitarbeitern des Gesundheitsamtes, Abordnungen aus andern Bereichen der Kommunalverwaltung, umfangreichen Unterstützungskapazitäten aus Behörden des Freistaates einschließlich Studenten der FH Meißen und mit den helfenden Soldaten der Bundeswehr.

Erkenntnis 6

Neben der strukturellen Veränderung, welche im Kern ein eigenständiges Pandemiemanagement beim Gesundheitsamt beinhaltete, erfolgten auch zwingend notwendige prozessuale Anpassungen und Veränderungen in der Führungskultur.

Es wurden zum Beispiel online-Schulungen organisiert, standardisierte Einarbeitungen (technische und gesetzliche Grundlagen) vorgenommen, FAQ erstellt, Prozesse innerhalb und außerhalb des Pandemiemanagements abgestimmt und beschrieben sowie Multiplikatoren für den nötigen Wissenstransfer „ausgebildet“, da es unter Beachtung des Infektionsschutzes unmöglich ist, Dienstberatungen face to face zu organisieren. Insofern mussten auch hier andere Formen, wie Telefon- und Videokonferenzen gefunden und eingerichtet werden.

Das Führungsteam im Pandemiemanagement trifft sich zweimal wöchentlich via Videokonferenz und klärt alle Belange von grundsätzlicher Bedeutung rund um das Infektionsgeschehen, um die Qualität zu erhöhen und die Bearbeitungsdauer zu beschleunigen.

Die immer weiter steigenden Infektionszahlen ließen keine Zeit zum Aufatmen oder gar in den verdienten Weihnachtsurlaub zu gehen. Der Spitzeninzidenzwert lag in Chemnitz Mitte Dezember 2020 bei etwa 560, mit wöchentlich rund 1.400 Neuinfektionen. Es war daher dringend nötig, über Wochenenden und Feiertage hinweg durchzuarbeiten und eine stringente Kontaktnachverfolgung sicherzustellen, denn das Virus kennt keine Feiertage.

Gemeinsam mit der Personalvertretung und dem Engagement aller beteiligten Unterstützer und Mitarbeiter gelang es auch über die Weihnachtsfeiertage und um den Jahreswechsel, eine durchgängige Corona-Hotline und kontinuierliche Kontaktnachverfolgung zu ermöglichen. Damit gelang es zugleich, die zu diesem Zeitpunkt noch immer bestehenden Bearbeitungsrückstände aus dem Dezember abzubauen.

Januar 2021: Der Lockdown zeigt Wirkung

Im Januar des neuen Jahres 2021 bestätigte sich dann, was kaum jemand zu hoffen gewagt hatte: Der strikte Lockdown in Sachsen in Kopplung mit einem reorganisierten systematischen und kontinuierlichen Pandemiemanagement zeigten erste Erfolge. Das Dashboard des RKIs wies seit der 2. Kalenderwoche 2021 stark rückläufige Infektionszahlen für Chemnitz aus. Chemnitz hatte in Sachsen den geringsten Inzidenzwert und lag mit einer Inzidenz von 75 deutlich unter dem Bundesdurchschnitt.

Erkenntnis 7

Der Pandemie ist nur beizukommen, wenn die notwendigen Infektionsschutzmaßnahmen im öffentlichen und privaten Leben korrelieren mit einem auf die jeweilige Inzidenzzahl angepassten Pandemiemanagement der Kommune . Und das in struktureller, prozessualer und personeller Hinsicht. Es wird darauf ankommen, die Vorgaben für Strukturen und Führung von Gesundheitsämtern entsprechend neu zu justieren.

Digitalisierung als Instrument der Automatisierung

Neben allen organisatorischen und personellen Konsequenzen aus den Erfahrungen der ersten Welle zeigte sich auch die Notwendigkeit einer adäquaten digitalen Weiterentwicklung der Anwendungen und Schnittstellen der Gesundheitsämter. Sachsen nutzt bereits mit dem System „Octoware“ eine landesweit einheitliche Software in den verschiedensten Tätigkeitsbereichen der Gesundheitsämter. Die Auftrags- und Meldewege zur Sächsischen Landesuntersuchungsanstalt (LUA) laufen bereits seit Jahren elektronisch. Das zur Bewältigung der Pandemie genutzte Modul „Infektionsschutz“ stellt jedoch nur einen kleinen Teil der Gesamtfunktionalität dar und ist für ein eher geringes Fallaufkommen konzipiert. Grundsätzlich ist dieses Modul in seiner ursprünglichen Form für das reguläre Infektionsgeschehen ausreichend, nicht jedoch für die Anforderungen beim Management dieser Pandemie. 

Defizite der Digitalisierung

Bereits im Frühjahr 2020 zeigten sich jedoch auch darüber hinaus Defizite in der Digitalisierung:

1. Erkenntnisgewinn: Meldeweg Labor -> Gesundheitsamt

In der Realität beauftragen Ärzte, Kliniken und Gesundheitsämter die Labore ihrer Wahl mit Untersuchungen. Falls das Ergebnis der Untersuchung eine meldepflichtige Infektion darstellt, wird vom Labor das für den Patienten zuständige Gesundheitsamt ermittelt und das Untersuchungsergebnis per Fax dorthin übermittelt.

Das Gesundheitsamt übernimmt diese Angaben händisch in sein Verwaltungssystem und leitet die weiteren Maßnahmen ein. Dabei handelt es sich um die Daten des Indexpatienten, der die Basis für die Kontaktnachverfolgung bildet. Für Einzelfälle ist dieses Vorgehen geeignet, aber nicht massentauglich. Diese Problematik war bekannt und deshalb wurde bereits 2017 per Gesetz die Einführung eines Deutschen Elektronischen Melde- und Informationssystems (DEMIS) beschlossen. Nach dem erstellten Stufenplan sollte die erforderliche zentrale Infrastruktur des Bundes im Juni 2020 betriebsbereit sein.

Alle sächsischen Gesundheitsämter waren im August 2020 empfangsbereit. Für die liefernden Labore gab es die Verpflichtung allerdings erst ab 1.1.2021. Das bedeutete für die Gesundheitsämter auch in der 2. Welle eine Menge an Handarbeit bei der Übertragung der Faxinhalte in die Verwaltungssoftware, verbunden mit Rechercheaufwand wegen unvollständiger oder unleserlicher Inhalte. Die Pandemie kam also in Bezug auf die Digitalisierung von Meldewegen mindestens 1 Jahr „zu früh“. Ziel muss es sein, dass DEMIS verpflichtend für alle(!) meldenden Labore an die Infrastruktur der Behörden angeschlossen wird und die Meldungen automatisiert weiterverarbeitet werden.

2. Erkenntnisgewinn: Kontaktnachverfolgung

Im Frühjahr 2020 war die Kontaktnachverfolgung bei insgesamt 211 Infektionen im Stadtgebiet während der ersten Welle noch überschaubar. Doch auch hier zeigte sich schon der Schulungsbedarf und die Notwendigkeit einer einfacheren Fallerfassung durch Unterstützungskräfte und gegebenenfalls auch ein Selbstservice von positiv getesteten Personen.

Nachdem durch intensive Schulung und Überarbeitung der Prozesse deutliche Verbesserungen erzielt werden konnten und in Zusammenarbeit mit dem Softwarehersteller einige Anpassungen in „Octoware“ umgesetzt wurden, läuft das System mittlerweile gut und ist nahezu tagaktuell. Der Vorteil dieser Vorgehensweise für Sachsen besteht in einem einheitlichen IT-System aller sächsischen Gesundheitsämter bei der Bearbeitung und Meldung unterschiedlichster Infektionskrankheiten. Auch der Bund beabsichtigt mit der bundesweiten Einführung von „SORMAS“, ein einheitliches vernetztes System zur digitalen Kontaktnachverfolgung einzusetzen. Dabei lässt er jedoch außer Acht, dass erneut Schnittstellen zu Drittsystemen entwickelt werden müssen, da SORMAS nicht alle Belange der Arbeit der Gesundheitsämter abdeckt. Auf dem Höhepunkt der 2. Welle beschließt man auf höchster Ebene die bundesweite Einführung einer alternativen Software „SORMAS“ mit Spezialgebiet „Kontaktverfolgung“ speziell für die Kontaktnachverfolgung von SARS-Cov2-Infektionen. Dies würde im Moment zu einer doppelten Datenhaltung und erheblicher Mehrbelastung für das Gesundheitsamt führen.

3. Erkenntnisgewinn: Einreiseanmeldung

Zum Ende der Sommerferien 2020 deutete sich eine 2. Welle bereits an. Für Einreisende per Flugzeug wurde die Aussteige-/Einreisekarte aktiviert, die Fluggäste bei Einreise handschriftlich auszufüllen hatten. Diese Dokumente wurden dann zentral gescannt und den Gesundheitsämtern als TIFF-Dateien (nicht automatisiert Volltext-erkennbar) zum Download bereitgestellt.

Dies bedeutete erneut händische Erfassungsarbeit im wesentlichen Umfang. In einer 2. Ausbaustufe wurde diese Aussteige-/Einreisekarte dann durch die Bundesdruckerei zur Digitalen Einreiseanmeldung weiterentwickelt. Für die Gesundheitsämter bestand der Unterschied darin, jetzt keine Bild-Datei, sondern ein maschinenlesbares Format herunterzuladen.

In Chemnitz wurde in Folge dessen eine Möglichkeit zum Import und der Weiterverarbeitung der Daten geschaffen. Leider blieb es auch hier bei Handarbeit in großem Umfang, weil die ständig wechselnden Regelungen und eine Vielzahl von Ausnahmen eine wenigstens teilautomatisierte Weiterverarbeitung fast unmöglich machten. Ziel muss die Vorgabe standardisierter und eindeutiger Vorgaben und Rahmenbedingungen sein, die dann auch interoperabel in entsprechenden digitalen Lösungen umsetzbar sein müssen.

Fazit der drei Beispiele

In allen drei Beispielen werden die Gesundheitsämter mit vielen händischen Datenerfassungsaufgaben belastet, die so nicht mehr zeitgemäß sind und ein durchgängiges Gesamtkonzept erfordern, welches mehr als die Einführung einer Software namens „SORMAS“ notwendig macht. Es braucht die Etablierung einheitlicher Standards, die sich in die kommunale Verfahrensvielfalt integrieren lassen. Die Gesundheitsämter benötigen eine flexible technische Ausstattung, um sowohl im Normal- als auch im Pandemiebetrieb handlungsfähig zu bleiben.

Der Datenaustausch zwischen allen Beteiligten ist umgehend standardisiert zu digitalisieren und durch geeignete sichere Kommunikationswege zu unterstützen. Mit DigaSax ist ein erstes Projekt bereits in Arbeit. Die eingesetzte Software sollte mit elektronischen Meldewegen und elektronischen Akten arbeiten und ein tägliches Arbeitsmittel sein, da selten genutzte Werkzeuge meist zusätzlichen Schulungsbedarf verursachen oder bei Updates übersehen wurden und genau dann nicht richtig funktionieren. Wegen des anlassbezogen hohen Auskunftsbedarfes ist ein flexibel skalierbares Kommunikationssystem empfehlenswert.

Schlussendlich müssen die Gesundheitsämter in die Lage versetzt werden, gewonnene Daten automatisiert analysieren zu können (z.B. Wo treten Ausbruchsgeschehen auf?). Dies kann nur durch die Vorgabe zentraler digitaler Standards und Austauschformate und weniger durch die Vorgabe einzelner Systeme gelingen. Die gewonnenen Erkenntnisse werden durch die Stadt Chemnitz genutzt, um das Gesundheitsamt neu und mittels digitaler Möglichkeiten aufzustellen. Die dabei gewonnenen ehrlichen Erkenntnisse waren ein guter erster Schritt, um Lösungswege aufzuzeigen und Andere daran teilhaben zu lassen.