„Wir müssen den Spannungsfall ausrufen!“
Sagt der CDU-Verteidigungspolitiker Roderich Kiesewetter. Müssen wir das wirklich?
Vermutlich gerade deshalb fand seine Forderung, Deutschland „müsse“ den Spannungsfall ausrufen, sofort eine breite mediale Beachtung. Darunter sowohl Verständnis und Unterstützung als auch kritische Nachfragen. So fragte die Süddeutsche Zeitung sofort „Steht Deutschland vor dem Spannungsfall?“ Gemeint war wohl: Steht das Land tatsächlich vor dem Spannungsfall?
Offensichtlich nicht, sonst wäre er ja wohl schon ausgerufen worden!
Wer wäre eigentlich für die „Ausrufung“ zuständig?
Auch hier hilft ein Blick in das Gesetz, genauer gesagt das Grundgesetz. Einschlägig ist Art. 80a Absatz 1 des GG. Die Feststellung/Ausrufung des Spannungsfalles kann weder durch den Kanzler noch den Bundesminister der Verteidigung, ja noch nicht einmal durch das gesamte Bundeskabinett erfolgen – zuständig wäre der Bundestag und hier wäre sogar eine 2/3-Mehrheit notwendig.
In der juristischen Literatur ist man sich einig, dass der Spannungsfall eine Vorstufe des Verteidigungsfalles ist – allerdings ist nur Letzterer gesetzlich definiert, der Spannungsfall nicht. Bei dessen Feststellung hätte das Parlament einen weiten Beurteilungsspielraum und diese „Einschätzungsprärogative“ wäre nur bedingt rechtlich überprüfbar. Jedenfalls könnte ein Gericht seine von der Meinung des Gesetzgebers abweichende Einschätzung nicht ohne weiteres zur allein richtigen ausrufen. Es sei denn, der Gesetzgeber hätte seinen Einschätzungsspielraum evident verlassen oder gar willkürlich entschieden.
Angenommen, nur einmal angenommen, der Spannungsfall würde tatsächlich ausgerufen – was dann? Sofort könnten Gesetze angewandt werden, die in Friedenszeiten ruhen. Auch ohne (!) militärischen Angriff einer feindlichen Macht könnte sich der Staat Befugnisse verleihen, die er ansonsten nicht hätte. Motto: Wir sind zwar (noch) nicht im Krieg, aber wir müssen uns auf einen Krieg sofort einstellen. So könnten dann eine Wehrpflicht auch ohne parlamentarische Kontrolle eingeführt, Reservisten aktiviert, Frauen zu Sanitäts- und Heildiensten verpflichtet werden, siehe Art. 12a IV GG.
Und das ist nur ein kleiner Ausschnitt der vielen staatlichen Möglichkeiten, massiv in das Alltagsleben von Millionen Bürgerinnen und Bürgern einzugreifen.
Der Artikel 80a GG
Art. 80a GG gehört historisch betrachtet zu den sog. „Notstandsgesetzen“, die Ende der 60er Jahre Gegenstand heftiger innenpolitischer Proteste waren. Beschlossen wurden diese Gesetze am 30. Mai 1968. Die ZEIT stellte damals fest, dies sei „die umstrittenste Gesetzesvorlage seit der Wehrverfassung“. Sicherlich nicht ganz falsch.
Sollte man gerade deshalb mit der Ausrufung des Spannungsfalls nicht besonders vorsichtig sein? Der zeitliche Zusammenhang mit den Drohnenangriffen im Frühherbst 2025 ist offensichtlich. Dass wir alle rechtlichen Voraussetzungen und technischen Fähigkeiten schaffen sollten, um solche Angriffe schneller abwehren zu können, ist zweifellos richtig. So wie es auch richtig ist, die Bundeswehr personell und materiell substanziell zu stärken. Aber deshalb gleich Art 80a GG aktivieren? Mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen? Befinden wir uns wirklich am Vorabend eines militärischen Angriffs (auch) auf unser Land?
Die Ukraine befindet sich im Krieg. Seit Februar 2022 leben die Menschen dort in Angst und Schrecken, leiden unter tagtäglichem Bombenterror, den gezielten Angriffen bewaffneter Drohnen – auch auf Sanitätskräfte –, betrauern unzählige Opfer an der Front und in weiten Teilen des Landes auch in der Zivilbevölkerung. Helfen wir ihr weiterhin, das Land vor der „militärischen Spezialoperation“ (O-Ton Russland) und ihren Folgen zu schützen. Die Ukraine soll frei und souverän bleiben, nicht als eine Art Westrussland vom Diktat Moskaus abhängig werden.
Deutschland stand immer und wird auch weiterhin an der Seite der Ukraine stehen. Gut so!
Der Autor, Wolfgang Bosbach, ist Kongresspräsident des Berliner Kongresses für Wehrhafte Demokratie. Von 1994 bis 2017 war er Mitglied des Deutschen Bundestages und dort unter anderem von 2000 bis 2009 stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für den Bereich Innen- und Rechtspolitik und von 2009 bis 2015 Vorsitzender des parlamentarischen Innenausschusses.
Der 8. Berliner Kongress Wehrhafte Demokratie - Gesellschaftlicher Dialog für Innere Sicherheit, Verteidigungsfähigkeit und Zusammenhalt findet vom 29. bis 30. Juni 2026 im Hotel de Rome in Berlin statt.